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«Wandzeitung» vom 14.4.2015:

«Ohne mich» ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann.

Wir schreiben die Geschichte.

Ich gebe es zu – auch mir genügt es jeden Morgen beim Zeitunglesen und auf dem Arbeitsweg die immer gleichen Politikerinnen und Politiker zu sehen, die von Inseraten und Plakatwänden lächeln, die Lösung aller Probleme in einem Satz versprechen und die am Samstag den Spaziergang in der Marktgasse zum Spiessrutenlaufen verkommen lassen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Stimmbeteiligung tief ist, wenn manche Politikerinnen und Politiker lieber wie in einer Waschmittelwerbung von teuren Plakaten strahlen anstatt sich dem Dialog mit den Menschen zu stellen. Mal ganz abgesehen davon, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung gar nicht mitbestimmen kann, weil sie entweder zu jung sind, den Schweizer Pass nicht besitzen oder aber beides vereinen – beteiligt sich nur eine Minderheit an unserer Demokratie. Viele Wahlcouverts wandern ungeöffnet im Altpapier, andere wiederum liegen noch zwei Wochen nach dem Wahltermin zuunterst im Papierstapel auf dem Schreibtisch. Trotz Verständis, dass die mit viel Geld gekauften Inserate nerven können – mich erschreckt die tiefe Beteiligung an der Demokratie. Das empört mich nicht nur deshalb, weil Menschen in anderen Teilen der Welt für das selbstverständliche Recht auf Meinungsfreiheit und Mitbestimmung ihr Leben riskieren oder gar getötet werden. Es empört mich auch, weil so die Zukunft denen überlassen wird, die wählen gehen. Und diese Zukunft zementiert den Status Quo – mit all seinen rückwärtsgewandten Tendenzen, seiner unpolitischen Biederkeit, seiner fortschreitenden Ungleichheit. Wer nicht mitentscheidet, stellt sich – gewollt oder ungewollt – auf die Seite der bestimmenden Mehrheit.

Der verstorbene französische Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel traf vor wenigen Jahren mit seiner kurzen Schrift «Empört euch!», in dem er zum friedlichen Widerstand gegen die weltweiten Ungerechtigkeiten aufruft, den Nerv der Zeit. Darin äussert er sich treffend auch zur demokratischen Teilhabe, die nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verantwortung sei: «Ohne mich ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann.»

Doch dieses «ohne mich» ist weit verbreitet. Und so empörend es ist, so fest ist es auch Ausdruck unserer Zeit. In einer Gesellschaft, in der das Bonmot «Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied» zum allgemeingültigen Grundsatz erklärt wird, erstaunt die tiefe Stimmbeteiligung wenig. In einer Gesellschaft, die auf Eigenverantwortung und Individualismus setzt, geht die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarität verloren. Eine Gesellschaft, die das wirtschaftliche System und das Zusammenleben als «naturgegeben» hinnimmt, vergisst, dass es die Geschichte nicht gibt.

Ich bin überzeugt, dass die Geschichte nicht vorgeschrieben ist, sondern wir tagtäglich daran sind, sie zu schreiben und zu bestimmen. Sich an der Demokratie zu beteiligen, bedeutet nicht nur, die Welt von heute und morgen mitzuschaffen. Sondern es bedeutet auch, sie nicht der Geschichtsschreibung von anderen zu überlassen.

 

 


Mattea Meyer,
14.4.2015, 114. Jahrgang, Nr. 104.

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