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«Wandzeitung» vom 5.9.2017:

Wie viel Demokratie darf es sein?

Stadtratswahlen in Winterthur.

Mit meiner neuen Brille sehe ich klarer. Doch es sind nicht nur die Gläser, die einen hell blicken lassen. Es sind die Augen selbst. Dasselbe gilt für die Schärfe. Ein verschlacktes Auge, oder zwei, trüben den Blick. Oft braucht es Zeit, durch etwas hindurchzusehen: Wenn wir bedenken, dass wir Menschen im unendlichen Raum leben, wird es schwierig die Sonne oben und die Erde unten zu erkennen.

Wir leben in einer freien Demokratie. Doch wie frei ist sie wirklich? Haben wir die Freiheit verpasst oder einfach falsch eingeschätzt? Vor dem zweiten Weltkrieg war unsere Demokratie, auch diejenige der Schweiz, noch autokratisch. Das Liebäugeln mit der Diktatur haben unsere Nachbarn mit Haut und Haaren erlebt. Bei uns blieb die autokratische Demokratie verschont. Als unsere Nachbarn nach dem Krieg die freie Demokratie einführten, mussten die kurzfristig eingesprungenen Führungsleute ihren Platz in der Politik und Wirtschaft, im Militär und in der Kirche wieder räumen. Sie hatten während der Diktatur die Jobs der früheren Autokraten eingenommen. Nicht so in der Schweiz. Bei uns blieb nicht nur die autokratische Führung in allen öffentlichen und staatlichen Institutionen am Ball. Das Gefühl, autokratisch frei zu sein, wurde in unserem Land zu einer Siegerstimmung. Zum Glück wurden wir vom zweiten Weltkrieg unmittelbar verschont. Doch blieb es uns verwehrt, einen Schritt in die freie Demokratie zu tun. Die Siegerstimmung hat uns dafür die Augen verschlossen. Ob auch unsere Nachbarn die freie Demokratie richtig verstanden haben, zweifle ich. Denn schon bald wurde alles, was wissenschaftlich aus Amerika kam bewundert. Vergessen wurde, dass dieses amerikanische Wunder in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik von den Autokraten stammte, die vor dem Weltkrieg aus Europa vertrieben worden sind und glücklicherweise "änet dem Atlantik" überlebten. In den 60er Jahren begann die Autonomie sich durchzusetzen, aber nicht nur auf den Strassen. Auch an den Universitäten wurden die Fakultäten autonom, so dass die eine Professur nicht mehr wusste, was die andere tut. Die freie Demokratie wurde zur autonomen, was sich heute im vielfältigen Spezialistentum widerspiegelt. Viele Autonome der 60er Jahre sind heute Führungsleute oder Professoren, es sei denn sie seien bereits pensioniert oder gestorben.

Haben wir Schweizer und unsere Nachbarn, insbesondere die deutschen und die österreichischen, die freie Demokratie nach 1945 überhaupt verstanden? Es ist erlaubt, die Frage zweimal zu stellen. Ich wage zu behaupten, dass wir Schweizer über alle Parteilinien hinweg, im Grunde immer noch autokratisch oder dann ganz einfach autonom denken. Was uns zum Glück verschont blieb, war das Schreckgespenst der Diktatur. Doch ohne diese Zäsur ist es manchmal schwierig, durch die eigenen Gläser zu sehen. Unseren Nachbarn geht es nicht besser. Auch ihre Augen dürften sich öffnen, freie Demokratie weder von oben noch von unten zu sehen. Das wünsche ich mir auch für die nächsten Stadtratswahlen in Winterthur. Hier gibt es noch einiges zu tun, was einer Solidaritätsgemeinschaft gut tun kann. Freie Demokratie wäre anzustreben.


Heiner Dübi,
5.9.2017, 116. Jahrgang, Nr. 248.

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