Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 19.12.2017:

Real oder virtuell?

Lieber Peter Schmid.

Wir kennen uns nicht, aber Sie schreiben das, was ich schon lange selber schreiben wollte. Sie sind mir zuvorgekommen. Es geht um die unglaubliche Euphorie der Lehrpersonen für etwas, das die Kids viel besser können als die meisten von ihnen. Oh, es gibt sicher Ausnahmen, aber die mittelalterlichen oder auch die etwas älteren Lehrerinnen und Lehrer kommen da weniger mit. Es geht um die digitale Welt und die Einführungskurse für "Lehrkräfte" für die ein unwahrscheinliches Interesse besteht.

Peter Schmid aus Frauenfeld und ich fragen uns, ob man den Schülerinnen und Schülern VOR der virtuellen nicht doch zuerst einmal die reale Welt näher bringen sollte. Viele Kinder jeden Alters sind mit Apps besser vertraut als wir Erwachsenen. Da scheint es eigenartig, wenn den Lehrern jetzt etwas in Kursen beigebracht werden soll, das die Kinder längst beherrschen. Dass die Schule dieser Entwicklung nacheifert, ist fragwürdig und bedenklich. Früher spielte man mit Bauklötzen, heute haben schon Dreijährige ein Handy mit Spielen drauf - klar kann man da auch lernen, aber die reale Welt ist eben auch noch da; und in ihr sollte man sich als Kind auch zurechtfinden können. Der Lehrplan 21 wird das bestimmt nicht reparieren, in der realen Lebenswelt sich zurechtfinden, das ist ein gutes Ziel und genau das kann mit zu frühem digitalem Herumspielen nicht erreichen. Die heutigen Computerprofis haben schliesslich auch nicht schon im Kindergarten mit einem Tablet experimentiert und haben später, aber noch früh genug, die entsprechenden Kompetenzen (tja, die sind im neuen Lehrplan GROSS geschrieben!) erlangt. Die elementaren Kenntnisse und Fertigkeiten dürfen keinesfalls vernachlässigt werden und auf Kosten digitaler Medien auf "später" verschoben werden.

In meiner Karriere als Aushilfs-Heilpädagoge in Schulheimen sind mir Jugendliche begegnet, die ausschliesslich mit Apps beschäftigt waren und nichts mehr anderes in den Kopf bringen wollten. Sogar im Skilager hatten wir Kinder (ab11 Jahren), die sich in der Warteschlange des Skilifts verdrückt haben weiter zu gamen. Spielsüchtig? Das kennen wir doch bereits von den Casinos. Der Spielsucht ist schwer beizukommen, im einen Fall haben wir zwei Jahre gebraucht, bis der Jugendliche wieder "gewöhnliche" Fähigkeiten und Tätigkeiten entwickeln wollte und konnte. Erfolg durch Therapie? Keineswegs. Obwohl jede Woche eine Sitzung, führte erst die Erkenntnis, dass Spielen allein keine Zukunft hat, zum Entscheid, an einem festen Datum alles zu löschen. Der Psychoanalytiker Toni Hofmann hat mir einmal gestanden, dass er Spielsüchtige nach der zweiten Sitzung fragt, ob sie denken, dass er ihnen helfen könne. In den meisten Fällen sei die Antwort nein. Und die schickt er dann - kostenfrei - nach Hause.

Apropos virtuelle Welt: mir wäre lieber, die fänden sich in unserer Lebenswelt besser zurecht und müssten nicht zuerst über Google herausfinden, ob Basel oder St. Gallen weiter von Bern entfernt liegt."Es sollte heute in den Schulen darum gehen, Gegenwelten zu setzen statt nochmals nachzuvollziehen, was zurzeit bis zum Überdruss schon gehätschelt wird." Danke, Peter Schmid!


André Bernhard,
19.12.2017, 116. Jahrgang, Nr. 353.

Artikel als PDF downloaden

Standpunkte:

20.12.2017, 11:57 Uhr.

Heiner Dübi schrieb:

In der Unternehmerwelt nennt sich dieses Phänomen Kollaborieren auf digitalen Wegen. Auch hier braucht es Gegenwelten. Sie setzen sich dem Kollabieren entgegen. Zusammenarbeiten und zusammenbrechen stehen sich gegenüber. Wo ist die Balance?


Veröffentlichen Sie Ihren

Standpunkt*:

Verbleibende Zeichen: 777 von 777

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.