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«Wandzeitung» vom 8.9.2017:

von der kraft der worte:

der club der toten dichter.

es soll hier nicht vom gleichnamigen film die rede sein, sondern von einer begebenheit aus jener zeit, die den tiefpunkt der deutschen geschichte darstellt – nur gerade zwölf jahre dauerte sie, und welch einen finsteren nachhall haben sie, jene jahre! zwölf jahre sind sonst schnell vorbei, aber wie endlos müssen diese den betroffenen vorgekommen sein, falls sie nicht vorher den mördern zum opfer gefallen sind. die geschichte, von der hier die rede ist, soll sich in einem konzentrationslager zugetragen haben. dort haben sich einige menschen in einer verschwiegenen ecke immer wieder zusammengefunden und haben, indem sie einander gedichte vortrugen, die sie auswendig wussten, die erlittenen qualen gelindert und ihre verlorene zeit geadelt, und wer dabei stockte, dem konnte ein anderer weiterhelfen. der schatz, der auf diese weise zusammenkam, dürfte sich über die gesamte lyrik der deutschen literaturgeschichte erstreckt haben. sie trugen zusammen, was sie in sich trugen, und retteten ein stück kultur hinüber in jene welt des grauens.

was hätte ich beitragen können, an bildern und an klängen, überlege ich mir. «im nebel ruhet noch die welt, noch träumen wald und wiesen» – «herr, es ist zeit, der sommer war sehr groß» – «vom himmel kommt es, zum himmel steigt es, und wieder nieder zur erde muss es, ewig wechselnd» – «arm in arm und kron an krone» – «herr, schicke was du willt, ein liebes oder leides, ich bin vergnügt, dass beides aus deinen händen quillt» – «wild zuckt der blitz, im fahlen lichte steht ein turm» – «es sitzt ein vogel auf dem leim, er flattert sehr und kann nicht heim» – «am grauen strand, am grauen meer und seitab liegt die stadt» – «geh aus, mein herz, und suche freud in dieser lieben sommerzeit an deines gottes gaben».

in solchen worten wurde schönes und arges, liebes und leides lebendig und gab zeugnis davon, dass die welt des lagers nicht die ganze wirklichkeit war. solches versicherten diese menschen einander gegenseitig, indem sie ihre gedichte rezitierten; indem sie sie, nicht laut aber eindringlich, laut werden ließen. die gebundene sprache hat, weil sie sich der musik nähert, gegenüber der prosa noch eine zusätzliche kraft. kürzlich hat einer, der mit seinen eltern aus dem osten geflüchtet war, gesagt: wir mussten alles, aber wirklich alles zurücklassen, und dann hast du nur noch, was du im kopf hast und im herzen.

glücklich können die sein, die nicht auf der flucht sind. aber die frage lohnt sich für alle: was haben wir im kopf und was haben wir im herzen? den einen helfen bibelverse oder gesangbuchstrophen, den andern die formeln ihres fachgebietes und wieder andere tragen in sich die erinnerungen ihres lebens. ich beispielsweise habe wieder angefangen, gedichte auswendig zu lernen.


Alfred Vogel,
8.9.2017, 116. Jahrgang, Nr. 251.

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Standpunkte:

9.9.2017, 09:23 Uhr.

Herbert Danzer schrieb:

Ein berührender Text! Ein Lesetipp dazu: Ray Bradbury, «Fahrenheit 451».
In einer dystopischen Welt, in der die Feuerwehr nicht Brände bekämpft, sondern Bücher verbrennt, weil deren Lektüre die absolute Konformität gefährdet, flüchtet sich der Protagonist des Buches, ein ehemaliger Feuerwehrmann, zu Dissidenten, die sich in die Wälder geflüchtet haben und Schriften der Vergangenheit auswendig lernen, um sie mündlich weitergeben zu können.
Als Motto stellt Bradbury dem Roman ein Zitat von Juan Ramón Jiménez voran: «Wenn man dir liniertes Papier gibt, schreibe quer über die Zeilen.»


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