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«Wandzeitung» vom 25.2.2017:

EINSATZ:

Liibli lupfe.

Manchmal gewähren selbst rechtsfreie Räume eine unerwartete Sicherheit. MARTIN REISENBERG.

Allen Leuten Recht getan, ist nicht genug. Das Recht durchdringe auch Zeit und vor allem Raum. Keine rechtsfreien Räume! Auch nicht im kleinen Internetz, das wir alle gut kennen.

Es begann als Hoffnungsträger einer neuen Anarchie, mit Ausnahme der äusserst geordneten technischen Strukturen der digitalen Kommunikation. Es etablierte sich zur Bastion von Nerds und Trollen und ist längst auch vom Spiesser besetzt: Katzenvideo auf Youtube, Selfie auf Facebook. Wenn dabei das Shirt geliftet – auf gut Schweizerdeutsch das Liibli gelupft – wird, empfiehlt sich Instagram. Wenn es unter das Liibli gehen soll, Tumblr oder noch weiter drunter das Darknet.

Das lockt natürlich nicht ausschliesslich zeigefreudige Narzissen und Exhibitionisten an, die bekanntlicherweise nicht nur im verbalen Bereich tätig sind, sondern auch die klassische Kriminalität. Zu letzterer gehört nicht der Bildersturm, der unter dem Deckmantel des Jugendschutzes alles pönalisiert, was nicht zugeknöpft bis unter die Ohren daherkommt. Noch nicht.

Denn die Einteilung klassisch oder nicht ist vorübergehend, schliesslich ist ein Verbrechen, was der Gesetzgeber, hierzulande das Volk, dafür hält. Und ein Federstrich desselben macht ganze juristische Bibliotheken zu Makulatur, wie der damalige erste Staatsanwalt von Berlin 1848 festhielt. An seinem Amt hielt er deswegen nicht lange fest. Amtsträger haben gefälligst keine unbequemen Wahrheiten zu äussern. Auch nicht fast ein Jahrhundert bevor sich ein Wahlpöbel der Feder bemächtigte und alles strich, was hoch und heilig gewesen war. Ein Stimm- und Wahlpöbel, der wieder stark im Kommen ist.

Natürlich benötigt das Individuum Schutz, auch im kleinen Netz. Soweit es sich nicht selber helfen kann.

Aber nicht, soweit es sich nicht selber helfen will. Nicht jede Unbedarftheit und Übertreibung schreit gleich nach staatlicher Intervention. Eine virtuelle Ohrfeige wird kaum unsere Backe anschwellen lassen. Und ich finde, wir können selber weg- (oder auch hin-)sehen, wenn ein Kleidungsstück zuviel gelupft wird.

Eine Spezialeinheit für Cybercrime soll der Rechtsfreiheit im Netzraum Einhalt gebieten. Nun ist es aber nicht so, dass das Recht nur zum Schutz da wäre. Normen kodifizieren die geltenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Und die wollen alles geregelt haben. Wo die nötigen hemmenden Normen fehlen, ufern die Regeln aus wie die Arme einer Krake. So werden die Polizisten über das Vorgehen bei der virtuellen Ohrfeige geschult. Mir ist nicht einmal klar, wie sie verabreicht wird.

Dieser ungehemmte Normierungsdrang verlangt geradezu nach Rechtsfreiheit. Nach einem Raum, in dem das Individuum – sei es Spiesser oder Genie oder beides – unbevormundet die ihm von Verfassung wegen zustehenden Grundrechte beanspruchen darf. Beispielsweise zu lupfen, was es mag.

Sonst heisst es eines Tages nicht mehr, dass selbst rechtsfreie Räume unerwartete Sicherheit gewähren. Sondern dass diese nur noch in rechtsfreien Räumen garantiert ist.


Adrian Ramsauer,
25.2.2017, 116. Jahrgang, Nr. 56.

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