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«Wandzeitung» vom 9.7.2017:

EINSATZ:

Frechheit siegt.

Heuchelei kommt aus der Mode. JOHN LE CARRE

Wer kennt die Geschichte nicht, in der ein Schüler auf das Aufsatzthema «Was ist Frechheit?» hin ein Blatt abgab, auf dem einzig das Wort «Das» geschrieben stand? Er kassierte eine blanke Eins. Wir wollen uns nicht darüber unterhalten, dass heute ein Care-Team die seelische Verwundung des Mutigen kurieren oder der Lehrer gar den Hut nehmen müsste. So wie bei jener Jugendfussballmannschaft, die eine Zu-25-Niederlage kassierte, worauf der Trainer der Siegermannschaft geschasst wurde. Er hätte das Spiel so steuern können, dass die Niederlage weniger hoch ausgefallen wäre, die Besiegten hätten Mühe, mit dem Resultat fertigzuwerden ... Worüber uns wir nicht unterhalten wollten, ist – da kein Einzelfall – der schlagende Gegenbeweis zu Le Carrés These. Der ist natürlich weise genug zu wissen, dass seine Aussage nicht stimmt und als programmatische Aufforderung zu verstehen ist. Und sie kann man nicht genug wiederholen. Natürlich gilt es, schonungsvoll mit der Wahrheit umzugehen und gerade im unmittelbaren Dialog das Gegenüber nicht mit der härtestmöglichen Ausdrucksweise zu konfrontieren. Eine zurückhaltende Argumentation zur Schonung des Gegenübers ist keine Heuchelei, solange der Kern der Argumentation erhalten bleibt. Mit dem Kern meine ich ausdrücklich nicht Beleidigungen, wie sie im Internetz zum schlechten Ton gehören. Diese überschreiten die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit und im Regelfall auch jene der Wahrhaftigkeit und sind mit Recht verboten. So viele Schlampen kann es gar nicht geben, wie der Netzmund glauben machen will.

Empathie ist empfehlenswert. Aber eben: empfehlenswert. Nicht obligatorisch. Und es ist unsensibel, sich nicht so zu verhalten, aber nicht strafbar. Also hört auf, von Staats wegen geschliffene Scheren für die Köpfe (der andern) zu verlangen. Benützt eure geschliffenen Münder und sondert auch mal eine Frechheit wie jene des besagten Schülers ab. Übt euch aber in der Kunst des Ausdrucks. Und die andere Seite trainiere dasselbe – und ihre Unverletzlichkeit. Seid wahrhaftig und aufklärerisch. Instrumentalisiert aber die Aufklärung nicht. So wie etwa der Tübinger Medienwissenschafter Bernhard Pörksen, der für aufklärerischen Journalismus plädiert. Wogegen selbstredend nichts einzuwenden wäre. Wenn er nicht von «guter Macht» spräche und die Aufklärung von Delikten durch die Medien propagierte. Womit er einzig dem Boulevard und der Tendenz zur Skandalisierung zudient.

Die Projektion der Angst der Bevölkerung vor Gewalt und sexueller Devianz ist nachvollziehbar. Aber keine Maxime für den öffentlichen Diskurs. Was macht Pörksen, wenn das Resultat seiner Recherche nicht eindeutig auf die Seite der Opfer tendiert, sondern er feststellt, dass Interaktionen die Ursache sind, die nicht eindeutig einer Seite zuordnenbar sind? Oder er herausfindet, dass ein kodifiziertes Delikt – wie etwa das Inzestverbot – nicht mit rationaler Begründung als strafwürdig erachtet werden kann? Publiziert er seine Erkenntnis dann unter dem Motto «gute Macht», wohl wissend, dass er keinen Fuss mehr auf den weit ausufernden Teppich der Gutmenschen setzen wird?

Wäre es doch nur so, dass Frechheit siegte und Heuchelei aus der Mode käme.


Adrian Ramsauer,
9.7.2017, 116. Jahrgang, Nr. 190.

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