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«Wandzeitung» vom 12.1.2017:

Vier Jahreszeiten nach dem Ableben meines Vaters:

Der Schleier lichtet sich.

Das letzte Jahr habe ich mir erlaubt zu trauern. Es heisst, der Mensch braucht ein Jahr, hierzulande sagt man vier Jahreszeiten, um den Verlust eines lieben Menschen zu verarbeiten. Nun kann ich nicht mehr sagen: «Vor einem Jahr hat mein Vater noch gelebt.» Einige sagen, alles sei Energie und dass wenn jemand tot ist, er doch noch um uns ist, nur in einer anderen Form. Je länger je mehr habe ich das Gefühl, dass die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt. Vor einigen Monaten verstarb Ruedi, ein Kollege meines Vaters, sie kannten sich vom Schweizerischen Alpenclub, SAC. Ruedi wurde in derselben Kirche beerdigt wie mein Vater, sein Grab ist eine Reihe unter demjenigen meiner Eltern. Nach der Beerdigung sass ich am Tisch mit Ruedis SAC-Kollegen, die auch die Kameraden meines Vaters sind. Von Familienabenden und «Bluestfahrten» kenne ich die meisten. Als ich beruflich nach Kolumbien ging, sorgten mein Vater und Ruedi dafür, dass ich Ruedis Sohn kennenlernte. Rolf lebt mit einem Kolumbianer in Spanien. Wir sahen uns in Kolumbien, ich besuchte sie in Spanien und wenn sie in die Schweiz kommen, treffen wir uns. Mein Vater und Ruedi sind nicht mehr unter uns, aber die Freundschaft zwischen Rolf, Álvaro und mir besteht fort. Vor wenigen Jahren stellte mein Vater den Kontakt zwischen einer seiner beiden Patentöchter und mir her. Wir gingen zu dritt essen, waren auch einmal bei ihr eingeladen. Vor Weihnachten meldete sie sich und wir sahen uns. Erst im Laufe des letzten Jahres wurde mir bewusst, dass mein Vater wünschte oder hoffte, dass Ruth und ich uns auch nach seinem Ableben treffen. Obwohl mein Vater nicht wusste, was ich mit seinem Hausteil machen würde, ich wusste es ja selber nicht zu seinen Lebzeiten, sehe ich jetzt, dass er das Haus für mich im Schuss gehalten hat. Als mein Vater anfangs 80 war, liess er zwei Solarzellen auf dem Dach montieren und isolierte und täferte die Kellerdecke eigenhändig. Papi, staunst jetzt Du über mich? Seit letztem Jahr kümmere ich mich um Haus und Garten, studiere unseren Stammbaum, schaue die sorgfältig von Dir angelegten Ordner an mit alten Familienfotos. Beim Staatsarchiv Thurgau habe ich ein Einsichtsgesuch gestellt, damit ich die Akte Deiner Mutter lesen darf. Als mein Vater etwa sieben war, wurde bei seiner Mutter Schizophrenie diagnostiziert und sie kam in eine Nervenheilanstalt, wo sie Jahrzehnte später verstarb. Von einem Tag auf den anderen verloren mein Vater und seine Schwester ihre Mutter, zu Hause wurde nicht mehr über sie gesprochen. Nun möchte ich wissen, wer meine Grossmutter war, möchte ihr ihren Platz in unserer Familiengeschichte wiedergeben. Papi, Monate nach Deinem Ableben begann sich ein Schleier vor mir zu lichten. Oft ist mir, als würde ich mich häuten. Ich sehe klarer, handle besonnener, bin irgendwie mehr da. Das ist wohl Dein Vermächtnis. Eine Weile dachte ich, ich würde meinen Vater in gewisser Weise vergessen, wenn ich nicht mehr leide wegen der Trauer um ihn. Es wird wohl immer Tage geben, wo er mir schmerzhaft fehlt. Aber Papi, ich spüre jetzt, dass wir im Herzen ewig miteinander verbunden sind, auch über meinen Tod hinaus.

 

 


Rosmarie Schoop,
12.1.2017, 116. Jahrgang, Nr. 12.

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