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«Wandzeitung» vom 12.2.2017:

Zu meinem Mutterland Chile hatte ich immer ein eher distanziertes Verhältnis, aber:

Langsam kommt mir Chile näher.

Chile kenne ich schon mein ganzes Leben. Meine Mutter war Chilenin, meine Eltern lernten sich in Iquique, einer Stadt im Norden Chiles, kennen. Viele Jahre später heirateten sie. Nach einem Jahr in Lima und einem weiteren in Iquitos, einer Stadt am peruanischen Amazonas, bestiegen sie in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso das Schiff, fuhren nach Genua und von dort in mein Vaterland, die Schweiz.

Ich kann sagen, dass ich mit meinen chilenischen Cousinen und Cousins aufwuchs. Wir sahen uns nicht oft, aber regelmässig. Im Jahr 1996 verstarb meine Mutter. 1997 ging ich alleine nach Chile, um Diverses zu regeln. Danach kehrte ich Chile für zwanzig Jahre den Rücken und wandte mich dafür anderen lateinamerikanischen Ländern zu. Vor zwei Jahren bereiste ich während zwei Monaten verschiedene lateinamerikanische Länder und nutzte die Gelegenheit, den Kontakt zu meinen chilenischen Verwandten wieder aufzunehmen. Es war, als ob es nie einen Unterbruch gegeben hätte. Vor etwas mehr als einem Jahr starb mein Vater und ich wollte diesen Verlust mit meiner chilenischen Familie teilen. Seither sind unsere Leben wieder miteinander vernetzt.

Als der sozialistische Präsident Salvador Allende gestürzt wurde, war ich fünf Jahre alt. Auch während der Pinochet-Diktatur reisten meine Eltern und ich regelmässig nach Chile. Obwohl ich auch die chilenische Staatsbürgerschaft besitze, fühlte ich mich in Chile immer wie eine Fremde. Jetzt ist mir das egal, ich nehme es niemandem mehr übel, der nicht glauben kann, dass ich Chilenin bin. Ich habe nie in Chile gelebt, bin in der Schweiz geboren, von einer waschechten Chilenin habe ich nichts, nur einen leichten Akzent, der mich ironischerweise in anderen lateinamerikanischen Ländern als Chilenin «verrät». Es schockiert mich noch immer, dass anscheinend 50 Prozent des chilenischen Volkes hinter Augusto Pinochet stehen. Obwohl man weiss, welches Leid er verursacht hat. Aber ich bin darüber nicht mehr wütend. Ich nehme es hin, ändern kann ich es nicht. Irgendwie ist spürbar, dass man in Chile, in diesem lang gezogenen, schmalen Land, am Ende der Welt ist. Hier sagen die Menschen: «Ich gehe in den Süden» oder: «Ich gehe in den Norden», wenn sie von ihren Ferienplänen reden. Gemeint ist das eigene Land.

Chile ist farbiger geworden. Auf den Strassen sieht man heute im Gegensatz zu früher auch dunkelhäutige Menschen mit afrikanischen Blut. Viele Haitianer, Ecuadorianer, Kolumbianer, Venezolaner arbeiten in Chile. Es heisst, die Chilenen lieben Ausländer, am liebsten haben sie Europäer. Schliesslich sind viele Chilenen stolz auf ihre europäische Herkunft. Hingegen würden in Chile stark dunkelhäutige Menschen oft beleidigt, las ich in einer Zeitschrift. Strassenwischer zum Beispiel. Der Journalist des Artikels plädierte dafür, diese Menschen willkommen zu heissen. Denn sie würden mit ihrer Art, ihrem fröhlichen Lachen, ihrer positiven Ausstrahlung und nicht zuletzt mit ihren Essgewohnheiten Chile bereichern. Im lateinamerikanischen Raum gilt der Chilene als eher pessimistisch gesinnter Zeitgenosse, der in allem zuerst das Negative sieht. Zum Glück ist alles im Wandel, auch in Chile.


Rosmarie Schoop,
12.2.2017, 116. Jahrgang, Nr. 43.

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