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«Wandzeitung» vom 12.6.2017:

Von wegen «tote Sprache»:

Latein lebt auch heute weiter.

Ich liebte die Latein-Stunden an der Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene in Zürich. Weil ich Sprachen studieren wollte, hatte ich den Matur-Typus mit Latein als Pflichtfach gewählt. Meine Lehrerin, damals etwa 30, unterrichtete aus Leidenschaft und aus einer unglaublichen, wohltuenden Ruhe heraus. Man sah und spürte, wie sie die alten Sprachen liebte. Und diese Liebe transportierte sie in ihren Unterricht, was die Latein-Stunden nicht nur für mich jedes Mal zu einem Erlebnis machten. Neben Latein beherrschte unsere Lehrerin Altgriechisch und Sanskrit. Sie hatte lange dunkelblonde Haare, die sie manchmal zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Sie war eine natürliche, sportliche Schönheit. Ihre Ernsthaftigkeit, Natürlichkeit und Bodenständigkeit liessen sie bald zu meiner Lieblingslehrerin werden und zum Schwarm einiger Mitschüler. Ihre Schüchternheit machte sie noch liebenswerter. Und ihre Begeisterung fürs Latein übertrug sich auf mich, auch dank ihrer Gabe, gut zu erklären und sich klar auszudrücken.

Am 29. März 2017 war Latein das Morgenthema auf Radio SRF 1. Es ging um «Latein im Alltag», darum, wie diese Sprache in unserem Vokabular omnipräsent ist und dies uns oft nicht bewusst ist. Ein Interviewpartner des Radio-Moderators war Lehrer an einem Gymnasium. Er erinnerte mich mit seinem Enthusiasmus sehr an meine damalige Lehrerin. Mit einem erfundenen Text zeigte er auf, wie unser Wortschatz von Wörtern lateinischen Ursprungs gespickt ist. Zum Beispiel das heute sehr beliebte Wort «krass», das vom lateinischen «crassus» kommt und soviel wie «dick, fett», aber auch «auffallend, ungewöhnlich» bedeutet.

Alsbald erinnerte ich mich an meine Lateinlehrerin, als wir den Imperativ, die Befehlsform, durchnahmen. «Ihr kennt doch die Automarke Audi», fing sie an. «Audi! Hör! Der Motor ist so leise, dass man ihn kaum hört, deshalb die Namensgebung.» In der Sekundarschule schrieben wir unter jede gelöste Aufgabe «q.e.d.», quod erat demonstrandum, was zu beweisen war. In der Migros wird eine Zahnpasta verkauft, die «Candida», Weisses, getauft wurde. Es gibt x-Beispiele von Latein im Alltag, das zeigte auch der besagte Gymi-Lehrer eindrücklich und unermüdlich auf. Danke allen Lehrenden, die sich mit wahrer Freude dem Unterricht widmen und so das Feuer in anderen Menschen entzünden zu vermögen!

Sprache fasziniert mich seit jeher. Als Teenager liebte ich es, Grammatik- und Vokabelbücher zu lesen. Es erfüllte mich mit Freude, ich hatte viele Aha-Momente, die jeder für sich eine Art Offenbarung darstellten. Eines meiner Lieblingsbücher ist «Abenteuer Sprache» von Hans Joachim Störig. Ich habe es wohl vor etwa 25 Jahren gekauft und ich schaue alle paar Jahre wieder rein. Vor kurzem war ich auf Sizilien. Ich war überwältigt von den alten, wunderschönen Gebäuden. Überall Kultur, zum Teil auch nur Überreste, immer wieder lateinische Inschriften. Ich bekam wieder Lust auf diese Sprache, nahm mir vor, die alten Schulbücher wieder zu studieren. Zu Hause stellte ich fest, dass ich sie nicht mehr habe.

Wer hat lateinische Schulbücher, die er/sie nicht mehr möchte? Ich bin eine dankbare Abnehmerin.


Rosmarie Schoop,
12.6.2017, 116. Jahrgang, Nr. 163.

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