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«Wandzeitung» vom 16.12.2017:

Alt ist toll:

Gegenstände erzählen Geschichten.

Meine Wohnung ist voll von gebrauchten Sachen. Sie bedeuten mir viel mehr als neue. Neue sind funktional, vielleicht auch schön. Aber sie haben noch kein Leben. Die alten haben eine Geschichte, sie erzählen eine. Wenn ich mir vorstelle, was sie schon alles erlebt haben. Da ist zum Beispiel das Geschirr, das meine Grosseltern 1955 von ihren Eltern zur Hochzeit bekommen haben. Meine Grosseltern waren Mitte 20, als sie sich vermählten und zu diesem Zeitpunkt bereits ein Kind erwarteten. Das Geschirr lagerte in all den Jahrzehnten im Schrank zusammen mit repräsentativen Stücken wie der Rosenthal-Früchteplatte, den Kristallgläsern oder dem Silberbesteck für besondere Anlässe. Es kam auf den Tisch, wenn besonderer Besuch da war, oder an Weihnachten und anderen Festanlässen. Das Silberbesteck hat einen dunklen Belag angesetzt, wie es das Edelmetall immer tut, wenn man es länger nicht verwendet, weil der ungestörte Kontakt mit dem Sauerstoff eine chemische Reaktion bewirkt. Nun sind die Dinge bei mir im Schrank, 60 Jahre, nachdem sie einst als neu geschenkt und in Betrieb genommen wurden. Und sie haben für mich einen unglaublich hohen Wert, der vom Waren- oder Marktwert vielleicht nicht komplett, aber doch ziemlich unabhängig ist. Der Wert besteht vor allem darin, dass Personen, die ich gern habe, die mein Leben geprägt haben und es immer noch tun, diese Gegenstände gebraucht und sorgsam aufbewahrt haben. Dass sie sie zu einem so wichtigen Anlass, wie der eigenen Hochzeit bekommen haben. Dass sie die Teller von Hand gespült haben, um zu verhindern, dass die Goldränder Schaden nehmen. Und die Kristallgläser nur lauwarm gewaschen haben, damit das Glas nicht zerspringt.

Solche Gegenstände oder Utensilien geben mir ein Heimatgefühl. Ein Sofa, das seit Jahren bei meiner Mutter im Estrich gestanden hat, das Sofa meiner Kindheit, verbunden mit Erinnerungen an Manderinli, Lebkuchen und Sirup, auf das wir uns an einem kalten Winternachmittag gefreut haben. Auf dem wir unsere Lieblingsserie “Baywatch“ mit David Hasselhoff geschaut haben. Manchmal stellte ich das Pferd im Stall ab und fütterte und putzte es erst ausgiebig, nachdem ich die 50-minütige Sendung geschaut hatte, weil ich sie auf keinen Fall verpassen wollte. Das Sofa war mit den Jahren so abgetragen.

An der Stelle, wo mein Vater mit seinem Garagen-Übergewand sass, um die “Tagesschau” zu schauen, hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. Meine Mutter bat ihn immer die Überhose auszuziehen. Doch mein Vater war im Stress. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Sendungsbeginn, für Umziehen war keine Zeit. Also färbte das dreckige Übergewand mit den Jahren auf das Sofa ab. Heute liebe ich den Fleck. Er erinnert mich an meinen Vater, an das vertraute Bild, wie er, interessiert nach vorne gebeugt, die “Tagesschau” mitverfolgt, um danach sofort wieder in die Garage zu verschwinden.


Claudia Blumer,
16.12.2017, 116. Jahrgang, Nr. 350.

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