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«Wandzeitung» vom 28.10.2017:

Unverschämt und unverdient:

Mein kleines Glück im grossen Glück.

Am Bettag im September habe ich einen halbrunden Geburtstag begangen, der bei vielen zur Pensionierung führt. Bei mir nicht. Aber dafür stand ich vor der herausfordernden Aufgabe, eine Bettagspredigt, die stets irgendwie von der gegenwärtigen Befindlichkeit in unserem Land handeln muss, mit ein paar Gedanken zu meinem Leben zu verbinden. Ich tat es, angeregt durch einen Zeitungsartikel aus dem vergangenen Sommer, in folgender Weise:

In der Schweiz leben wir auf einer „Insel der Glückseligen“. So hat der scheidende deutsche Botschafter seinen Abschiedstext in der NZZ getitelt. Das Glück, das wir in unserem Land erleben, ist nicht ein verdientes, lateinisch „felicitas“, sondern eher wie eines in der Lotterie: Wir haben „Schwein gehabt“ – „fortuna“ hätten es die Römer genannt. Wenn ein Brautpaar am Hochzeitstag besonders schönes Wetter hat, sage ich am Schluss der Trauung: „Mit dem Wetter habt ihr heute Glück gehabt. Verdient habt ihr es nicht.“ Gutes Wetter kann man sich gar nicht verdienen – unser Nationalglück auch nicht. Und dieses Glück besteht zunächst hauptsächlich aus einer Reihe von Negationen: der vielfältigen Verschonung von Unglück.

Kein Krieg seit 1848, kein Terror (ausser einem Flugzeuganschlag durch Palästinenser 1970), keine Naturkatastrophen (der Berner Klimaforscher Christian Pfister spricht von einer „Schweizer Katastrophenlücke“ 1882 – 1976), keine Armut und keine hohe Arbeitslosigkeit, sondern anhaltender und zunehmender Wohlstand mit grosser Verbreitung, kein korruptes Gesundheitssystem, sondern eines, das nur schon im Vergleich zum nächsten südlichen Nachbarstaat wirklich funktioniert. Natürlich ist dieses Glücks-Panorama etwas plakativ formuliert, und es könnten berechtigte partielle Einwände gemacht werden. Aber im grossen Ganzen stimmt es schon:

Wir haben in der Schweiz unglaublich viel unverschämtes und unverdientes Glück und haben darum allen Grund, dankbar zu sein – darüber hinaus hätten wir auch allen Grund, grosszügig zu sein. Metaphysische Erklärungen einer göttlichen Bewahrung scheinen mir der „Nichtschweiz“ gegenüber schlicht überheblich und eigentlich auch nicht überzeugend begründbar. Mein Dasein hat sich seit 1952 auf dieser Insel der Glückseligen abgespielt.

Ich habe in meiner ganzen Lebenszeit nicht einen Tag Krieg hautnah erfahren müssen, keinen Tag materielle Not oder beträchtlichen Mangel erlitten, kein Jahr ohne Ferien, bin trotz geisteswissenschaftlichem Studium keinen Tag arbeitslos gewesen und habe bis jetzt nur zwei Nächte als Patient im Spital verbracht (als 8-Jähriger anlässlich der Mandeloperation) – natürlich kann sich das von einem Moment auf den anderen ändern.

So habe auch ich bis jetzt unverschämt und unverdient viel Glück gehabt. Ich betrachte mich deswegen nicht als „Liebling Gottes“, sondern ich sehe es eher wie die SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. Als sie von Victor Giacobbo in einer Talkshow gefragt wurde, ob sie nach dem Überleben von vier extrem lebensbedrohlichen Situationen (darunter eine Schneelawine und ein Flugzeugabsturz) religiöser sei, antwortete sie:

„Ich habe nicht genügend Verstand, diese Zusammenhänge zu verstehen. Aber ich bin dankbar.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen.


Hugo Gehring,
28.10.2017, 116. Jahrgang, Nr. 301.

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