Wir stecken im Jahr 2017 fest:

Früher war alles viel besser.

Eigentlich wollte ich mich mit einer alten Schulkollegin treffen. Kurz vor unserer Verabredung sagte sie mir aber ab, da sie für eine wichtige Prüfung noch lernen wollte. Das erzähle ich am Montag in der Kaffeepause meines Arbeitsplatzes, als die Wochenendaktivitäten besprochen werden. Von einigen Mitarbeitenden erhalte ich ein verständnisvolles Nicken, ein schiefes Lächeln wird mir offeriert und dann ...

Früher war das also nicht möglich, entgegnet mir eine Mitarbeiterin. Früher, da hat man sich verabredet und ist dann auch erschienen! Schliesslich hat man das so vereinbart und überhaupt, nur weil man ein Mobiltelefon hat, ist das noch lange kein Freipass, um so kurzfristig abzusagen.

Wissend nicke ich, früher war natürlich alles besser. Da hat einem das Smartphone noch nicht seine Pläne durchkreuzt. Ich kontere mit der Bemerkung, dass man ja nicht nur spontan absagen kann, sondern ebenfalls spontan planen. Bei Langeweile oder wenn mir ein Treffen abgesagt wird, kann ich dank meinem Smartphone innert kürzester Zeit neue Pläne schmieden. Die Diskussion wird fortgesetzt, jeder gibt seine Meinung kund, aber wer hat denn jetzt recht?

Nun, früher war vieles besser. Ich hatte zum Beispiel an jedem Mittwochnachmittag frei. Ich musste keine Steuererklärung ausfüllen. Und noch früher, viel früher, war ich noch nicht mal geboren! Da gab es also ein sarkastisch-zynisches Kind weniger auf dieser Welt. Hach, die guten alten Zeiten.

Aber Spass beiseite; ich verstehe ja das teils melancholische Zurückerinnern der «älteren Generationen», wenn sie von den einfacheren Zeiten reden, aber manchmal nervt mich dieses Getue gewaltig. Denn oft klingt es für mich eher wie «jetzt ist alles schlimmer«. Und diese Aussage finde ich nicht fair. Die Technologie und auch das menschliche Denken haben sich extrem fortgebildet und verbessert. Arbeitsabläufe werden optimiert durch neuartige Entwicklungen. In den Köpfen der Menschen ist immer weniger das konservative «Frauen gehören in die Küche und Männer gehen arbeiten» Denken verankert, was zu mehr Freiheit in der Karriere- oder Familienplanung führt. Und da soll mir mal einer sagen, die Rechte der Menschen – vor allem von Minderheiten – waren früher besser.

Das Lustige finde ich ja, wenn Leute in meinem Alter diesen Spruch «Früher war alles besser» rauslassen. Meist mit einem genervten Augenverdrehen, welches sie noch protziger aussehen lässt. Denn, glauben Sie mir, diese Leute haben «früher» genau so wenig existiert wie ich. Und nur weil sie sich in den Sandkasten zurückwünschen, bedeutet das noch lange nicht, dass sie etwas Besseres sind, als die Jugendlichen, welche sich nicht jeden Tag über die «heutige Jugend» – wohlbemerkt ganze fünf Jahre jünger als man selbst! – beschweren.

Mittlerweile ignoriere ich solche Bemerkungen einfach, oder lasse meinen Gesprächspartner mit einem Nicken meinerseits im Glauben, dass er diese Diskussion, ohne tatsächliche Diskussion, gewonnen hat. Dieser «Triumph» bringt ihm ja sowieso nichts. Wir stecken beide im Jahr 2017 fest – zumindest bis das Zeitreisen erfunden wird. Und dann wird die Gegenwart grandios sein.

Nicole Langhart,
24.2.2017, 116. Jahrgang, Nr. 55.