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«Wandzeitung» vom 10.5.2017:

«Le diamant qui ferme le collier de poètes que la Belgique porte autour du cou» (Jean Cocteau):

Michel de Ghelderode.

Wäre die moderne Oper ein Tier, sie stünde längst auf der «Roten Liste» der gefährdeten Arten. Von den weltweit in der Saison 2015/16 produzierten 160 000 Vorstellungen entfallen allein auf Verdi, Puccini und Mozart knapp 40 000; von den 200 meistgespielten Opern stammt nur eine einzige von einem lebenden Komponisten (Wenn man Sheridan abwandeln darf: «Nur ein toter Komponist ist ein guter Komponist ...»). So verwundert es kaum, dass nur wenige Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Sprung ins Repertoire der Opernbühnen geschafft haben. Eines dieser Stücke, das mittlerweile Aufführungen nicht nur in Zürich und Bern, sondern auch in London, Paris, Berlin oder San Francisco erlebte, ist die 1978 in Stockholm uraufgeführte Oper «Le Grand Macabre» von György Ligeti.

Ligeti ist einer breiteren Öffentlichkeit vor allem durch die Musik bekannt geworden, die Kubrick für seinen Film «2001: A Space Odyssey» verwendete, aber von wem stammt die Grundlage für das Libretto seiner einzigen Oper? Von einem gewissen Michel de Ghelderode. Dieser 1898 in Belgien geborene Dramatiker, der sich als Zeitgenosse der Menschen des Mittelalters und der Renaissance fühlte, verfasste, obwohl seine Familie flämischer Herkunft war, seine Werke ausschliesslich in französischer Sprache.

Unerfreulicherweise ist er, obwohl seine Texte qualitativ nicht hinter denen eines Ionesco, Beckett oder Jarry zurückstehen, weit weniger bekannt als diese und nur ein sehr geringer Teil seines Oeuvres wurde bisher ins Deutsche übersetzt. Selbst antiquarische Ausgaben sind nur selten zu bekommen und so kann man sich meine Freude vorstellen, als mir dennoch eine Anthologie seiner Dramen in die Hände fiel.

Die Texte Ghelderodes, die den Einfluss des Mysterienspiels, der Commedia dell’Arte und des Marionettentheaters nicht verleugnen können, enttäuschten meine Erwartungen nicht; sie bieten ein wahres Feuerwerk grotesker Einfälle und grausamer Szenen, dem Credo Ghelderodes entsprechend, dass die Existenz des Teufels gewiss sei, da es genüge, um sich zu schauen, Gott hingegen sich nur selten offenbare. Da wird im «Grossen Makabren» die Apokalypse Breughellands vor Augen geführt, da zwingt in «Escurial» der König seinen Hofnarren zum Rollentausch und überantwortet ihn, als er seine Insignien nicht zurückgeben will, dem Henker, da kacken die Geistlichen in «Ausgeburten der Hölle», in dem der in Gestalt eines Abtes auf die Welt gekommene Antichrist an einer Hostie erstickt, zum Schluss auf die Bühne, da wird der unwissentlich zum Anführer einer Revolution gewordene harmlose Pantagleize am Ende hingerichtet, denn unsere Welt sei, so Ghelderode, so beschaffen, dass gerade der Unschuldige ans Kreuz geschlagen werde.

Ghelderode erlebte seine geplante Nominierung für den Nobelpreis nicht mehr und starb einsam und verbittert. Es wäre wünschenswert, dass mehr seiner über 60 Stücke der Vergessenheit entrissen, ins Deutsche übersetzt und aufgeführt würden.

Sollten Sie, was freilich wenig wahrscheinlich ist, in einem Antiquariat einem seiner Werke begegnen, greifen Sie zu!


Herbert Danzer,
10.5.2017, 116. Jahrgang, Nr. 130.

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