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«Wandzeitung» vom 31.1.2018:

Kurze Geschichten über kleine Nöte im Alltag (1/7):

Unter Nachbarn.

Reto schämte sich irgendwie. Die Nachbarn feierten einen Familiengeburtstag. Sie hörten Schlagermusik, ein dröhnender Melodienbrei, der ihm auf den Sack ging. Und dieses Gekreische der pubertierenden Tochter. Das ganze Brimborium vor dem Fenster seines Arbeitszimmers. Sie hatten ihn eingeladen, er hatte dankend abgelehnt. Er hatte Besseres verdient, geistreiche Gespräche zum Beispiel, und liebliches Gezwitscher von den Vögeln, die sonst immer zwischen den jetzt so schön blühenden Apfelbäumen konzertierten. Stattdessen Schlager und Kreischen, was für ein Alptraum …

Und doch schämte sich Reto, dass er so dachte, irgendwie. Eigentlich kannte er seine Nachbarn kaum, er wusste auch nicht, wie sie auf seinen Ärger reagieren würden, wenn er ihn denn offenbarte. Losbrüllen und nach Ruhe verlangen, sich unmöglich und lächerlich machen vor all den Gästen? Das kam natürlich nicht in Frage. Auf Rückzug schalten und den ganzen Tag die Aggression unterdrücken, die irgendwann in Hass und Bitterkeit umschlagen würde? Das war auch keine Lösung. Das Weite suchen? Alleine irgendwo in den Wäldern herumstreifen, solange, bis die rauschende Party zu Ende sein würde? Reto fühlte sich plötzlich hilflos und allein. Sicher dachten sie schon schlecht über ihn, zerrissen sich die Mäuler über diesen eigenbrötlerischen, eingebildeten Nachbarn.

Der Zorn stieg in ihm hoch. „Aber ich habe doch auch ein Recht auf meine Art zu leben“, schimpfte er. „Ist das denn so schwer zu verstehen?“ Schon wollte und er seine Faust auf den Tisch donnern – als ihm der Gedanke kam, dass sie ihn vielleicht verstehen würden, wenn er ihnen in freundnachbarschaftlicher Manier seine Bedürfnisse offenbarte. War es zu spät dafür? Hatte er mit seiner arroganten Ablehnung der Einladung schon jede Chance für nachbarschaftliches Entgegenkommen verspielt? Was denken eigentlich die anderen Nachbarn darüber?, sinnierte Reto. Wie sollte er es wissen, er redete ja nie mit ihnen. Hörten die auch gerne Schlager? Vielleicht aber doch lieber die Vögel in den Apfelbäumen? Wäre es vielleicht an der Zeit, Frau Tobler im oberen Stock darauf anzusprechen? Stört sie sich am Lärm? Was denken die Baumanns nebenan? Wieso habe ich nicht schon früher daran gedacht, fragte sich Reto, und schloss seine Fenster. Morgen würde er bei Frau Tobler läuten. Diesmal sollte es nicht beim Vorsatz bleiben, das Heft in die Hand zu nehmen. Diesmal würde er es bestimmt tun.

Karin Landolt, Kommunikatonsverantwortliche House of Winterthur, Journalistin, Moderatorin

Ende


Karin Landolt,
31.1.2018, 117. Jahrgang, Nr. 31.

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