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«Wandzeitung» vom 12.2.2018:

Medikamentenversuche in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen:

Richter über Recht und Unrecht.

Die Wissenschaftshistorikerin Marietta Meier leitet seit April 2016 das Forschungsprojekt «Psychopharmakaforschung von Prof. Dr. Roland Kuhn in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen». Sie untersucht mit fünf Mitarbeitenden, ob der ehemalige Klinikdirektor und Psychiater den Patienten Medikamente mit deren Einwilligung beziehungsweise dem Einverständnis der Angehörigen verabreicht hat. Finanziert wird das Projekt vom Kanton Thurgau, der es in Auftrag gegeben hat. 2019 werden die Resultate veröffentlicht. Liest man Berichte über dieses Thema, überwiegen die Fälle, in welchen die Patienten oder Angehörigen nicht gefragt wurden. Und/oder sie wurden nicht darüber informiert, dass die Medikamente noch nicht zugelassen waren.

Im Januar 2018 wurde auf SRF 1 der Dokumentarfilm «Auf der Seeseite – Die Medikamentenversuche von Münsterlingen» von Liz Horowitz ausgestrahlt. Ein Arzt sagt im Film, damals seien die Patientenrechte in der Schweiz quasi inexistent gewesen. Die Mutter meines Vaters verbrachte 39 Jahre in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, bei ihrem Eintritt noch «Irrenanstalt» genannt. Offiziell war sie kein «Versuchskaninchen». So bezeichneten sich die ehemaligen Patienten im erwähnten Dokumentarfilm selber.

Obwohl sich meine Grossmutter weigerte, die Medikamente einzunehmen, wurde sie dazu gezwungen. Das weiss ich aus den Akten, die ich im Staatsarchiv Thurgau eingesehen habe. Im Film kommen auch zwei Männer zu Wort, die zwischen 1966 und 1968 beziehungsweise zwischen 1975 und 1979, dem Todesjahr meiner Grossmutter, dort arbeiteten. Der eine als Assistenz-, der andere als Oberarzt. Der Assistenzarzt betreute damals die zwischen 70- und 90-jährigen Frauen. Möglicherweise hat er meine Grossmutter «gekannt». Der Oberarzt meinte, Münsterlingen sei eine «riesige Klinik» gewesen, er hätte nichts mitbekommen von Kuhns Medikamentenversuchen. Wie ist dies möglich? Wo es sogar die Patienten wussten?

Falls die Forschungsgruppe von Marietta Meier herausfinden würde, welche Ärzte Kenntnis hatten von den Medikamentenversuchen, würden sie die Namen veröffentlichen in ihrer Studie? Wohl kaum, denn im Projekt geht es darum zu eruieren, was Professor Kuhn getan oder nicht getan hat. Die Pharmaunternehmen Ciba-Geigy und Sandoz stellten Kuhn noch nicht zugelassene Medikamente in grossen Mengen kostenlos zur Verfügung. Als Gegenleistung probierte sie der Professor an den Patienten aus. Auch diese Firmen werden nicht behelligt werden.

Wer hat wie viel gelitten und weshalb? Gelitten, weil die Lehrmeisterin, die Eltern, der Ehemann sie eingeliefert haben? Oder weil die Medikamente und Behandlungsmethoden sie fast zerstörten? Für mich geht es weniger darum, ob Kuhn wider das Gesetz gehandelt hat. Man müsste sämtliche damals angewandte Psychiatriemethoden anklagen und mit ihr die Gesellschaft, die den Ärzten blind vertraute. Das ist unmöglich. Das Wertvolle dieser Studie besteht für mich darin, dass sie ins Gespräch bringt, wie damals mit Menschen verfahren wurde. Und welche Narben dies bei den direkt Betroffenen und ihren Familien hinterliess. Dieses Bewusstwerden ist heilsamer als jede Anklage.


Rosmarie Schoop,
12.2.2018, 117. Jahrgang, Nr. 43.

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Standpunkte:

4.4.2018, 18:32 Uhr.

Dr. René BLOCH, Psychiater schrieb:

Roland Kuhn und seine Experimente an Patienten mit Psychopharmaka gehörten zu einem Netzwerk mit einer Komplizenschaft einer Mehrzahl von Universitätspsychiatern und der Pharmaindustrie. Eine Verurteilung von Kuhn alleine ist sinnlos, da der ganze Kontext für seine Arbeit durchleuchtet werden muss. Die Motivation für die Arbeit zu Gunsten neuer Medikamente war vielfältig. Bei Kuhn spielte sicher Ehrgeiz, d.h. Prestigedenken eine entscheidende Rolle. Er ist 1939 in die Klinik Münsterlingen eingetreten und bis zu seiner Pensionierung 1980 daselbst eingeschlossen geblieben. Seine Arbeiten, d. h. Publikationen mannigfacher Art gestatteten ihm aus dieser sozialen Isolierung auszutreten.
„Dichtung und Wahrheit“ klaffen bei Kuhn weit auseinander : die Realität des Alltags in der Klinik und seine Fähigkeiten zu einer Patientenbeziehung gegenüber seinen philosophischen und ästhetischen Beschönigungen seiner Tätigkeit.


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