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«Wandzeitung» vom 25.3.2018:

EIN SATZ:

Schöne Aussichten.

Die verlorene Sprache der Kräne. Novelle von David Leavitt.

Heute geht es nicht um das Buch aus den Achtzigern. Dort brechen mit dem Comingout eines schwulen Sohns verborgene Sehnsüchte der Eltern auf. Es nimmt die auf Virtualität reduzierte Sexualität der Postmoderne vorweg. Und wäre als Drama mit Sex und Opfern kolumnenintensiver.

Hier aber wir wenden uns dem Titelhelden zu, präziser dem Helden im Titel, dem Kran und seinem Führer. Anlass ist, dass ich bisher das Privileg hatte, vom ersten Passivmehrfamilienhaus der Schweiz aus einen einzigartigen Blick über den Bahnhof der kleinen, beinahe grossen Stadt, die wir alle gut kennen, zu geniessen. Wenn es mir langweilig ist, und das ist mir beim Anblick der täglichen Aktenberge sofort, dann spiele ich Stellwerk, d.h. ich tue so, wie ich von meiner Terrasse aus den Zügen die Fahrstrassen stellen würde.

Wäre ich Freud, könnte ich den Bogen zur virtuellen Sexualität schlagen. Kleiner Wermutstropfen – nicht wegen Freud, sondern wegen des Gegenteils: Die Züge fahren nicht auf mein Geheiss, sondern auf jenes der Fernsteuerer im Flughafen. Der Tower hat eine Fortsetzung in den Boden, wo die Fahrdienstleiter vor Bildschirmen wieseln und – einmal abgesehen von der dritten Dimension – dasselbe tun wie ihre Kollegen in der Höhe. Wenn ich mit meinem Stellwerkprogramm ein Signal auf Grün stelle, kann es sein, dass der Zug schon abgefahren ist.

Nun habe ich nicht nur im Fahrbetrieb, sondern auch bei der Aussicht Konkurrenz erhalten. Just vor meinem Auge hat sich ein Kran in die Höhe gewunden. Vom Kranführerhäuschen ist der Ausblick mindestens doppelt schön. Und das neide ich dem braven Mann selbstverständlich. Er hat nicht nur die tollere Sicht, er bekommt auch noch Geld dafür, dass er dort oben sitzt. Und Aktenberge hat er auch keine. Während die SBB meine mentale Unterstützung mit keinem müden Franken löhnen.

Auch baut der Kran eine Passerelle so über die Gleise, dass mir die Züge noch weniger gehorchen als bisher. Sprich: ich sie nicht einmal mehr sehen kann und meine Signalstellung völlig aus der Bahn gerät. Bis die Baute zusammenfällt, bin ich handlungsunfähig. Ich ertappe mich, wie ich nach Anleitungen für Sprengsätze google. Und mir nur schon damit mein staatsgeschütztes Grab schaufle.

Nicht in allem ist der Kranführer zu beneiden. Mutmasslich zieht es nicht wenig dort oben. Und der Aufstieg auf der Leiter ist nichts für schwache Nerven und Füsse. Mit dem Ladegut kann der Kran im Extremfall die Fahrleitung touchieren. Das gibt zwar einen wunderschönen Lichtbogen, ist aber sonst nicht sehr bekömmlich. Und wenn man schliesslich riskiert, seine Sprache zu verlieren, dann bin ich in meiner Haut wieder ganz zufrieden.

Vielleicht muss er mich auch, wenn ich einmal zu spät dran bin, von meiner Kanzlei auf den Perron hieven.

 


Adrian Ramsauer,
25.3.2018, 117. Jahrgang, Nr. 84.

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