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«Wandzeitung» vom 8.4.2018:

von einem lesevergnügen:

carl spitteler.

zum ersten mal habe ich in der mittelschule von ihm gehört, als uns der deutschlehrer, in der stunde vor den ferien, als besonderen leckerbissen aus dem «olympischen frühling» vorlas. ich versuchte dann auch seinen roman «imago» zu lesen, verstand nicht viel und ließ mich dennoch davon regelrecht in trance versetzen. das hauptwerk aber, der olympische frühling, ist mir lange zeit zu einer art bibel geworden. ich habe das buch im kanadischen busch gelesen, habe laut daraus rezitiert, wie sich‘s gehört, und habe aus den versen heiteres vergnügen gezogen. nun holte ich letzthin das werk nach langen jahren wieder aus der versenkung und stellte fest: es hat immer noch die alte frische.

spitteler ist unterdessen ziemlich in vergessenheit geraten. er hat vor gut hundert jahren das leben und treiben auf seinem eigenen olymp beschrieben und sich damit selber in den olymp hineingeschrieben, nämlich in den der schwedischen akademie: im jahr 1919 erhielt er den nobelpreis für literatur, als bisher einziger schweizer (sofern wir nun mal hermann hesse den deutschen überlassen wollen).

die welt der griechischen götter in den kulissen des oberbaselbiets, das ist eine überaus farbige welt, in der aber unerbittliche protagonisten agieren, geleitet von ehrgeiz und trickreichen machtspielchen. spitteler kennt seine politiker. eine der hauptfiguren ist die aphrodite: das olympische weib oder weibchen, das nur mit den fingern zu schnipsen oder mit den wimpern zu zucken braucht, dass ihm götter und männer – und oft auch die frauen – verfallen.

in einer der geschichten begibt sie sich an einem sonnigen tag vom olymp auf die erde hinab, um sich am dortigen leben zu verlustigieren, und bringt das ganze räderwerk des menschenvölkleins durcheinander. in ihrem gang durch ein verträumtes städtchen wird sie vom gassenvolk entdeckt und kann sich ihren verfolgern kaum entziehen, flüchtet durch enge winkelgässchen, versteckt sich im stillen innenhof des rathauses, erlaubt sich den spaß, sich in die schar der brunnennymphen einzureihen, indem sie sich kurzerhand der kleider entledigt, und als die herren aus dem ratsaal die treppe herunter kommen, bleiben sie kunstverständig um die vermeintliche neue statue herum stehen. schon tun sich einige als kritiker hervor:

«der ausdruck ist nicht allzuschlimm, zu leblos nur. / der arm sitzt falsch. dies bein läuft wider die natur. / mir ists zu regelmäßig, zu geleckt, zu glatt, / brummt einer, der am buckel einen höcker hat. / … / bis dass das lachen, das ihr durch die nüstern schnob, / sie länger nicht verhielt und jubelnd sich erhob. / darob entrüstung und verwirrung. ui, betrug! / sie lebt! pfui scham! ich finde worte nicht genug!»

in seinem epos mit rund 16000 versen, allesamt sechshebig und paarweise gereimt, führt carl spitteler uns leser durch einen reich bevölkerten götterhimmel, der voll ist von ehrsucht und spott, von intrigen und demütigungen, kurz: voll von all den allzu menschlichen seiten des lebens.

 


Alfred Vogel,
8.4.2018, 117. Jahrgang, Nr. 98.

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