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«Wandzeitung» vom 15.7.2018:

In Russland sind Gastarbeiter Manipuliermasse:

Fremdsprachige Fremde.

Man sieht sie nicht, obschon sie existieren – sehr handfest sogar! Ein Gastarbeiter auf einem Velo fuhr mich kürzlich mitten in St. Petersburg fast um. In eine billige Arbeitskluft mit Tarnfarben-Käppi gekleidet, die linke Hand an der Lenkstange, die rechte am Telefon umschlängelte der spindeldürre Mann geschickt die Menschen auf dem Trottoir und redete dazu laut in sein Handy. Mit wem er wohl am Telefon gesprochen hat? Mit seiner Familie in Tadschikistan oder mit einem Kollegen, der hier ebenfalls irgendwo einen Park umgräbt, einen Wolkenkratzer betoniert oder in schwindelnder Höhe eine Hausfassade streicht?

Kein Wort verstanden – natürlich, denn Fremde sind ja fremdsprachig. Dass da auch kein Englisch helfen würde, setzen wir als selbstverständlich voraus. Sie kommen aus einer Welt am äussersten Rand unserer Wahrnehmung. Von dort kommen sie immer, die Fremden, die wir so gerne Gäste nennen, damit es uns leichter fällt, sie zu ignorieren. Beide Seiten geben sich Mühe – die einen verstecken sich, die anderen sehen weg. Eine saubere Lösung. Für die Drecksarbeit.

Sie bewegen sich anders, schwerfällig, ungelenk – Bauern in der Grossstadt. Sie sind unfrei, wenn auch ohne Ketten. Die misstrauischen Blicke der Russen halten sie in Schach – ihr "nicht-slawisches Aussehen" genügt als Stigma. Stets ein Muss auf dem Buckel, stets ein Warten und Erwarten im Genick. Ihre Antwort auf das Misstrauen ist ein lauernder Blick, den man ihnen als Bauernschläue auslegt. Alle sind sich einig, dass man ihnen nicht trauen kann. Darum kriegt die Polizei nicht genug davon sie zu kontrollieren, und immer wieder klauben ihre schwieligen Hände die Dokumente aus der Brusttasche – sie sind schon ganz zerlesen.

Erinnerungen an die Begegnung mit den Fremden in der eigenen Kindheit kommen auf. Sizilianische Strassenarbeiter, die im schattigen Strassengraben ausruhen und mir fünfzig Rappen versprechen, wenn ich ihnen ein Bier aus dem Laden hole. Immerhin, ein kleiner Kontakt, ein Lächeln, ein Spass auf Italienisch. Würde hier ein Fremdarbeiter ein russisches Kind ansprechen, so würde es wohl schreiend davonrennen – als Vertreter des "tatarischen Jochs" und Dschingis Khans sind sie geächtet. Früher waren sie Sowjetbürger, heute Arbeitskräfte – "Asiaten", ein bequemer Sammelbegriff wie im Westen der "Balkan", weil man ihre Herkunftsländer nicht auseinanderhalten kann und will. Ob sie auch mal in die Eremitage gehen? Wohl kaum.

Wo sie wohnen? Ich weiss es nicht, aber ich ahne es schon. In überfüllten Mietwohnungen im besten Fall, oder in Abbruchhäusern. Einst sah ich ein Pärchen aus dem Fenster eines ausgebrannten Gebäudes herauskriechen. Wie sie sich die Kleider glatt strichen, das vergesse ich nie. Wo gibt es sonst noch Platz für sie? Am Stadtrand neben der Ikea, wo die Baustellen wuchern. Dort sieht man sie über die Autobahnbrücke ziehen, während man im Stau steht. Zu Fuss, mit prallvollen Einkaufstüten in den Händen und Kindern im Schlepptau bewegen sie sich in Richtung Niemandsland.

Zwischen Dreckhaufen und Gestrüpp sind die weissen Punkte ihrer Plastiksäcke plötzlich verschwunden. Dort wohnen sie. Im Nichts.

 


Eugen von Arb,
15.7.2018, 117. Jahrgang, Nr. 196.

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