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«Wandzeitung» vom 29.6.2018:

Zur familiären Gewalt – ausgehend von Jugendlichen:

Frühzeitig Hilfe holen.

Familiäre Gewalt ist eines der grossen Tabus in unserer Gesellschaft – insbesondere, wenn sie das eigene Kind ausübt. Das Eingeständnis, dass der Sohn oder die Tochter einem beschimpft, bedroht oder gar handgreiflich wird, ist für viele Eltern mit grosser Scham verbunden. Auch wenn kaum über diese Art der familiären Gewalt gesprochen wird, ist sie doch präsenter, als viele vermuten würden. So registrierte der Elternnotruf im vergangenen Jahr rund 314 Anfragen von Eltern, die den Aggressionen ihrer Kinder hilflos gegenüberstanden. Wie aktuell das Problem ist, zeigt auch eine Erhebung der Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich. So fand 2017 jede zwölfte im Kanton Zürich von einem Jugendlichen begangene Tätlichkeit, Drohung oder Nötigung im familiären Umfeld – zumeist gegen die Mutter – statt. Dabei handelt es sich wahrscheinlich nur um die Spitze des Eisbergs. Wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt noch deutlich höher liegt als bei anderen Gewaltstraftaten. Der Leidensdruck von Eltern, die Opfer familiärer Gewalt werden, ist oft immens. Gewöhnung, Scham, Hilflosigkeit, Überforderung aber auch Schuldgefühle führen dazu, dass sich viele nicht getrauen, frühzeitig Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Erst wenn die Lage völlig eskaliert und die Situation Zuhause nicht mehr tragbar ist, wenden sie sich an die Polizei und reichen Strafanzeige ein. Dabei zeigt sich, dass der Loyalitätskonflikt oft so gross ist, dass die wenigsten an der Strafanzeige festhalten – und diese stattdessen zurückziehen. Dementsprechend hoch ist der Anteil an Einstellungen bei häuslicher Gewalt: Im vergangenen Jahr lag er im Kanton Zürich bei über 50 Prozent. Ob sich die Situation Zuhause nachhaltig beruhigt hat, entzieht sich jedoch unseren Kenntnissen, denn in solchen Fällen sind den Untersuchungsbehörden die Hände gebunden. Gewalt im familiären Umfeld entsteht nicht aus dem Nichts. In den meisten Fällen gehen Jugendliche nicht plötzlich tätlich auf die Eltern los. Es handelt sich vielmehr um einen schleichenden Prozess. Vor der eigentlichen Eskalation finden oft viele kleinere und grössere Grenzüberschreitungen statt. Die Autorität der Eltern wird vielleicht in Frage gestellt oder schleichend untergraben, während sich das Machtgefüge langsam verschiebt. Aber auch Mehrfachbelastungen von Eltern und Kindern sowie Einflüsse von aussen, beispielsweise in Form eines Schicksalsschlags, können einen Einfluss auf das Verhalten der Jugendlichen haben. Hinzu kommt, dass sich Jugendliche gerade in der Pubertät körperlich rasch entwickeln und ihren Eltern oft physisch ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen sind. Alle diese Faktoren können dazu beitragen, dass ein Ungleichgewicht entsteht, welches sich in Gewaltanwendungen gegen die Eltern entladen kann.

Es ist daher wichtig, dass die Betroffenen möglichst frühzeitig Beratung und externe Hilfe in Anspruch nehmen, solange die Negativspirale noch durchbrochen werden kann – bevor die Situation eskaliert. Weist das gewalttätige Verhalten ein gewisses Mass auf und wirkt es sich prägend auf die Familie aus, kann es sinnvoll sein, Strafantrag zu stellen. Familiäre Gewalt, soviel steht fest, darf kein Tabu mehr sein. Sich dafür zu schämen und sie stillzuschweigen ist in jedem Fall die falsche Strategie.


Marcel Riesen-Kupper,
29.6.2018, 117. Jahrgang, Nr. 180.

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