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«Wandzeitung» vom 12.7.2014:

Es hängt von Zufällen ab, wo ein Mensch zur Welt kommt:

Heimatgefühl gibt’s für alle.


Heimatgefühl. Das ist für mich etwas sehr Persönliches. Was wohl für viele Leserinnen und Leser der «Wandzeitung» in Winterthur ist, ist für mich Uster. Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Hier kenne ich mich aus und fühle mich zu Hause. Hier kenne ich die Menschen, die Vereine, die Politik, die Beizen. Hier kann ich etwas durchschauen und nachvollziehen, unterscheiden zwischen der Regel und dem Ausserordentlichen. Sehr wahrscheinlich bedeutet all das in der Summe Heimat. Dass ich sie gern habe, überrascht mich nicht.

Dabei ist es purer Zufall, dass ich ausgerechnet in Uster das Licht der Welt erblickte! Meine Mutter kam nämlich aus Italien. Während der Wirren und der Not des 2.Weltkriegs musste sie schon mit vierzehn Jahren das kleine elterliche Bauerngut in den Bergen oberhalb von Bergamo in Richtung Mailand verlassen. Sie landete als Dienstmädchen bei der Familie eines Rechtsanwaltes, einem fanatischen Anhänger von Mussolini. Beim Kriegsende brach sie mit ihrem Onkel, den es ebenfalls nach Mailand verschlagen hatte, in die Schweiz auf. Wie viele andere auf der Suche nach dem Glück im nördlichen Nachbarland, wo die von Bomben und Terror verschonte Industrie und Landwirtschaft günstige Arbeitskräfte suchten. In der Nähe von Uster fand sie Arbeit auf einem Bauernhof. Dort wurde sie aufgenommen wie eine eigene Tochter. Sie durfte sogar – das erste Mal seit dem Wegzug aus ihrem Bergdorf – am Tisch der Familie Platz nehmen. Die demütigenden Erlebnisse im Hause des Faschoanwaltes in Mailand einerseits und dieses Aufgenommenwerden im schweizerischen Bauernhaus haben sich tief ins Herz meiner Mutter eingebrannt. Noch heute, jahrzehnte später, bewertet sie die beiden Länder nach diesen einschneidenden Erlebnissen. Für sie, als gebürtige Italienerin, ist die Schweiz die absolute Nummer eins.

In Uster lernte sie meinen Vater kennen, dessen Familie auch nicht aus freien Stücken in diesem Ort gestrandet war. Es war vielmehr die grosse Arbeitslosigkeit der dreissiger Jahre, die sie aus der Innerschweiz ins Zürcher Oberland getrieben hatte. Hier gab es in den Textilfabriken noch Arbeit genug. Mein Vater war bei diesem Umzug neun Jahre alt. Er kam zwar nicht wie meine Mutter aus einem anderen Land, aber damals reichte schon ein Wohnortswechsel innerhalb der Deutschschweiz, um als Fremder behandelt zu werden. So bezog er in der Schule eine Ohrfeige nach der anderen, nur weil er die Härdöpfel als Gummelen bezeichnete.

Trotz ihrer unterschiedlichen geografischen Herkunft und ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten wurde Uster so zur Heimat meiner Eltern und ihrer Kinder. Daraus habe ich gelernt, dass es von Zufällen abhängt, wo ein Mensch zur Welt kommt und nachher seine Heimat findet. Es gibt diesbezüglich weder Schuld noch Verdienst. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein, wenn wir als Schweizerinnen und Schweizer mit Nichtschweizerinnen und Nichtschweizern zusammentreffen – ob in der Schweiz oder in der noch viel grösseren Nichtschweiz!

 


Ludi Fuchs,
12.7.2014, 113. Jahrgang, Nr. 37.

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