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«Wandzeitung» vom 12.12.2014:

Europäische Intellektuelle schreiben an einer Verteidigungslinie:

«Zivilisation» versus «Barbarei».

Während der «Islamische Staat» in Irak und Syrien vorrückt und seine Macht durch immer abgestumpftere Gewalthandlungen zu zementieren versucht, schreiben europäische Intellektuelle an einer Verteidigungslinie. Wie schon nach den Anschlägen im September 2011 errichten sie diese entlang der Erzählung «Zivilisation» versus «Barbarei». Der niederländische Schriftsteller sei für das fundamentalistische Grauen verantwortlich. Sprich: Es ist der nicht ausreichend kulturalisierte, zu wenig durch moderne Staatlichkeit regulierte, animalische Mensch, der hier killt.

Leon de Winter ist kein Einzelfall. Die Wiener Philosophin Isolde Charim, eigentlich eine Linke, stösst ins selbe Horn, wenn sie den dschihadistischen Terror als Folge mangelnder Staatlichkeit eklärt. Sie schreibt: «Das Machtmonopol des Staates – so problematisch es sein mag – ist zumindest an etwas gebunden: an Regulierungen. Irreguläre Kämpfer agieren jenseits davon. (...) Natürlich gibt es immer wieder Verstösse gegen das Kriegsrecht. Aber beim Partisanen geht es nicht um eine Übertretung. Der Partisan ist die grundlegende Infragestellung des Kriegsrechts.»

De Winter, Charim und Co. – sie singen alle den gleichen alten Song: Es ist der Aufbau moderner Armeen, zivilisierte Staatlichkeit und nicht zuletzt ganz allgemein «der Westen», die die «destruktiven Energien junger Männer in organisierte Bahnen» lenken und damit der menschlichen Gewalt Grenzen setzen, de Winter.

Doch was ist das für eine Erzählung? Zunächst einmal eine erschütternd geschichtslose. Moderne Staatlichkeit soll der Entmenschlichung von Kriegen Grenzen gesetzt haben? Wer hat im Zweiten Weltkrieg die Gewalt systematisch gegen die Zivilbevölkerung zu richten begonnen: Die weissrussischen und jugoslawischen Partisanen oder die deutsche Wehrmacht, die «die destruktiven Energien junger Männer» so erfolgreich zu kanalisieren verstand? Und wer hat davor den Terror im globalen Süden – Zwangsarbeit, sexuelle Sklaverei, die Zertrümmerung gemeinschaftlicher Sicherungssysteme – so erfolgreich verbreitet: die europäischen Kulturnationen oder die archaischen «Horden» Asiens und Afrikas?

Selbstverständlich ist die Gegenerzählung, die den «dekadenten Westen» zum Hort des Bösen macht, nicht weniger idiotisch. Sklaverei, Terror und bestialische Gewalt gab es auch schon vor dem Aufstieg des Westens und immer auch unabhängig von ihm: im kolonisierten Süden ebenso wie in der muslimischen Welt. Aber die in Europa so populäre Vorstellung, wonach Staatlichkeit und westliche Zivilisation die Gewalt gezähmt hätten, ist blanker Zynismus. Nicht nur Auschwitz, sondern auch die Kolonialgeschichte des 19. Jahrhunderts oder die Aufstandsbekämpfung von Franzosen, Briten und US-Amerikanern nach 1945 sprechen hier eine eindeutige Sprache. Staaten mögen mit «weniger Lust» morden und verstümmeln als de Winters «asiatische Horden», aber dafür tun sie dies mit grösserer administrativer Effizienz. Es ist seltsam, dass derartige Einwände in der aktuellen Debatte keine Rolle spielen.


Ludi Fuchs,
12.12.2014, 113. Jahrgang, Nr. 190.

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