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«Wandzeitung» vom 2.8.2014:

Alltägliches?

Leben auf dem Mond.

Die Nabelschnur war zweimal um seinen Hals gewickelt, als Domi zur Welt kam. Dass dadurch seine linke Hirnhälfte geschädigt worden war, wussten wir noch nicht. Wir waren glücklich über seinen Lebenswillen, er war sieben Wochen zu früh dran. Nach nur einem kurzen Herzstillstand innert vier Wochen, durfte er nach Hause kommen. Es lag ein steiniger Weg vor uns. Mit vielen Fortschritten und einigen Rückschlägen.

Mit seinem ersten Lächeln wartete Domi etwa acht Wochen. Er trank gern und gut und wuchs, bis ihn nach sechs Monaten eine Bronchitis wieder ins Spital brachte. Dort fing er sich noch eine schwere Magendarmgrippe ein. Seine Entwicklung stoppte abrupt. Sechs Monate lang päppelten wir ihn auf. Dann kam der Umzug in einen anderen Kanton. Für alle ein Segen. Endlich bekamen wir Unterstützung, denn nun war klar, dass Domi ein ganz besonderes Kind ist. Subito war ein tolles Netz mit Kinderarzt, Früherzieherin und Physiotherapeutin aufgebaut. Die Begleitung war topp! Domi hatte Angst vor dem Essen. Durch die Magensonde war seine Speiseröhre verletzt worden. Wenn ich mit einem Löffel kam, war der Mund sofort zu. Mit viel Liebe und Geduld hat er essen gelernt und ist heute ein dankbarer Geniesser.

Sämtliche Bewegungsabläufe mussten antrainiert und verinnerlicht werden. Seine Wirbelsäule ist leicht verkrümmt: Skoliose. Laufen konnte er mit drei Jahren, Sprechen mit fünf. Jeder Schritt eine Erleichterung. Domi wählte komplizierte Wege. Sitzen auf einem Stuhl lernte er zum Beispiel so, indem er erst mit beiden Beinen drauf stand. Dann liess er sich nieder. Domi wurde durch seine Behinderung eine Linkshändigkeit aufgezwungen. Die rechte Seite ist wie gelähmt. Seine Therapeutin erklärte uns, das Leben sei generell für ihn so, als wenn wir uns auf dem Mond zurecht finden müssten.

Domis Persönlichkeit ist vielschichtig und schwer fassbar. Durch seine Beobachtungsgabe hat er körperlich und geistig viel erreicht. Seine Empathie und sein frohes Wesen öffnet Herzen. Er findet im Nu auch den Zugang zu Behinderten und Tieren. Trotz vieler Ängste ist er dem Leben hingegeben. Er beweist Durchhaltevermögen, auch wenn’s schwierig ist und Überwindung braucht. Mit seinem Humor und Rhythmus bringt er die hektische Welt zum Stillstand. Er ist ein begabter Schauspieler und Tänzer. Trotz räumlicher Wahrnehmungsbeeinträchtigung hat er einen genialen Orientierungssinn, trotz autistischer Tendenzen eine grosse Toleranz für andere. Rechnen ist für ihn sehr schwer, die Uhrzeit lernte er wiederum schnell.

Domi liebt es, wenn ich ihn mit einer Zugfahrt oder einem Ausflug an den Flughafen überrasche. Er kennt die Routen, Fahr- und Flugpläne. Die Namen der Gesellschaften und deren Modelle. Für mich ist der Umgang mit ihm eine Gratwanderung zwischen Staunen und Verzweiflung, Hoffen und Ohnmacht. Manchmal tue ich ihm unrecht und bin ungeduldig. Er nimmt es gelassen und voller Liebe hin. Nun wird er 18 und fängt eine IV-Lehre als Recyclist an. Das ist sein Traum. Ich wünsche ihm viel Glück!

 


Momo Appenzeller,
2.8.2014, 113. Jahrgang, Nr. 58.

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