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«Wandzeitung» vom 23.12.2014:

voraussetzung zum dialog:

von der rechten anrede.

ob das folgende nun wichtig sei oder nicht, das frage ich mich selber auch, und wenn sich etwas nicht ändern lässt, so müssen wir’s mit der gebotenen gelassenheit akzeptieren. soll ich’s hinnehmen? es geht immerhin ums menschliche zusammenleben. was ich meine, zeigt sich an der folgenden episode: am schluss des gesprächs sagte der junge verkäufer zu mir: «dänn würd ich öi eener s mittleri modell empfele.» ich schaute neben mich und und ich schaute hinter mich und ich vergewisserte mich: niemand sonst, er meint mich allein. «hören sie, junger mann, wir haben nicht duzis gemacht, wir sind also per sie. es irritiert mich, sie sprechen mich dauernd mit ‚ihr‘ an. hierzulande spricht so nur der bauer mit dem knecht, weil er ihm das ‚du‘ und auch das ‚sie‘ nicht gönnt. anders ist es bei den bernern, diese haben dafür in ihrer mundart kein ‚sie’, dort ist das ‚ihr‘ die richtige form der höflichkeit.»

er hat es gar nicht herablassend gemeint, er macht nur eine um sich greifende mode mit, die mich ärgert, und ich bedaure, dass mir meine anmerkung etwas grob über die lippen gekommen ist. ich bin eben in letzter zeit von diesem ihr-ton vermehrt genervt worden.

es gibt auch jene trend-läden, wo mir der verkäufer mit der frage entgegenkommt «suechsch es gilet?» alles klar, man gibt sich hier per du. gewiss, ich weiss gut genug, dass die englisch sprechenden längst auskommen ohne die unterscheidung ,thou art‘ – ‚you are‘. auch in andern sprachen sind abstand gebende höflichkeitsformen im verschwinden begriffen oder verschwunden, und es soll auch gehen ohne. ich könnte damit leben. sind doch längst die köpfe mit den gepuderten zöpfen verschwunden, die zum diener johann zu sagen pflegten: «melde er mich bei den herrschaften an.»

dennoch, ich schätze es, mich ans ‚sie‘ halten zu können, bis ich mich einer person etwas angenähert habe, und vollziehe dann den schritt vom ‚sie‘ zum ‚du‘ einigermassen bewusst, und wenn mir von ihr das ‚du‘ angeboten wird, verstehe ich dies als zeichen der sympathie. zwar handelt es sich bei diesem ‚sie‘ grammatikalisch um eine unlogische konstruktion: da wird eine pluralform für eine einzelne angesprochene person verwendet – ‚sie können eintreten, frau müller‘ – die gleiche form, die auch für die wirkliche pluralform herhalten muss – ‚die gäste sind da, sie können eintreten‘. aber dieser anachronismus hat sich nun mal eingebürgert, genau wie jener andere, wenn wir auf französisch einen jüngeren mann mit ‚monsieur‘ – mein ‚señor‘, also mein ‚älterer‘ – anreden.

in der mittelschule mussten wir uns daran gewöhnen, dass uns die lehrkräfte vom ersten tag an siezten. was mich dabei irritierte: dass sie dies dann auch kollektiv taten. ich hätte erwartet: «nun schliesst ihr das buch und schreibt eine kurze zusammenfassung.» dort wo ich her kam, galt das ‚ihr‘ – für mehrere – auch in der höflichkeitsform. in diesen fällen hat sich unterdessen das ‚sie‘ durchgesetzt. andere zeiten, andere sitten. händ er s verstande?


Alfred Vogel,
23.12.2014, 113. Jahrgang, Nr. 201.

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