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«Wandzeitung» vom 13.10.2014:

Nacktselfies:

Den eigenen Voyeurismus eingestehen.

Sie würden nicht glauben, wie viele Witze betreffend Nacktselfies ich mir als grüne Jungpolitikerin anhören musste. Die Welle der Empörung schien sich in den roten Köpfen zusammenzubrauen und dann als unbeholfene Scherzversuche wieder herauszutröpfeln.

Die Mehrheit der Zeitungsleser war jedoch nicht belustigt, sondern schockiert und entrüstet. Wie kann sich ein Politiker so schamlos geben und Nacktbilder von sich selbst verschicken! Nacktbilder! Das geht doch nicht! Pfui, das will und soll niemand sehen! «Grüsel-Geri» titulierte der Boulevard, und der Pranger war eröffnet.

Ist ja auch wirklich unverschämt, so was! Auch wegen den Kindern! Was sollen die denn bitte denken, wenn sich sogar Nationalräte so zügellos und – igitt! – sexuell geben? Und während sich die Gesellschaft empört, träumt doch so manche Hausfrau davon, einmal als «Blick-Girl» der ganzen Schweiz ihre halbnackten Kurven zu zeigen. Den pubertierenden Mädchen wird Jahr für Jahr von Pro 7 und Co. eingeimpft, dass es erstrebenswert sei, als Traumberuf «Model» zu wählen. Und dafür nicht nur Stolz und Selbstwertgefühl, sondern auch den Anspruch auf Körperbekleidung zu opfern. Oder wieso sprechen wir nicht einmal von einem der besten Beispiele für den sozial-evolutionären Rückschritt, in dem wir uns befinden: dem Bachelor.

Lange haben Frauen und Männer dafür gekämpft, dass die Geschlechter als gleichwertig angesehen werden. Doch dann entscheidet sich das Fernsehen, eine Sendung auszustrahlen, in der sich ein hirnloser Möchtegern-Bodybuilder aus 20 kichernden Frauen die willigste aussuchen darf. All das findet in einer südlichen Destination statt, damit man von den «Ladies» auch immer möglichst gute Halbnacktaufnahmen beim Planschen oder Umziehen machen kann. Und nur, weil der hirnlose Möchtegern-Bodybuilder jetzt durch eine hirnlose Blondine ersetzt wurde, die sich als Bachelorette einen von 20 Männern mit Artikulationsschwierigkeiten – aber dafür mit Sixpack! – aussuchen kann, ist das keine Verbesserung der Rollenbilder, ganz im Gegenteil.

Das wirklich Tragische ist jedoch nicht, dass all das ausgestrahlt wird, sondern, dass es Erfolg hat. Die halbe Schweiz sieht zu, wenn der Bachelor seine Zunge in der gleichen Folge in drei verschiedene Hälse steckt. Und auch wenn Heidi Klum ihren Modelmädchen sagt, sich auszuziehen gehöre halt dazu. Auf jedem Sender, zu jeder Uhrzeit sind Brüste zu sehen, und oben an den Brüsten sitzt meist ein überschminktes Gesicht mit einem dümmlichen Grinsen, damit die gebleachten Zähne gut zum Vorschein kommen. Und da regen wir uns über ein Nackt-Selfie auf?

In unserer Gesellschaft herrscht eine anschauliche Doppelmoral, was Sexualität und deren Rolle in der Öffentlichkeit angeht. Wo bleibt die Empörung über all die aufdringliche, plumpe Nacktheit, die uns jeden Tag von Plakaten, aus Zeitungen und aus dem Fernseher entgegentritt?

Wo bleibt die Empörung über längst hinter uns gelassen geglaubte Stereotypen von Frauen und Männern? Und wo bleibt das Eingeständnis, dass so mancher Skandal nur deshalb einer ist, weil wir selbst zu verklemmt sind, um uns wenigstens den eigenen Voyeurismus einzugestehen?


Anita Hofer,
13.10.2014, 113. Jahrgang, Nr. 130.

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