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«Wandzeitung» vom 21.9.2014:

Wandeln wir uns zu einer Prekarisierungsgesellschaft?

O Brave New World.

«sie könne nur träumen von einem volontariat, träumen von einem bezahlten praktikum, träumen von fixgehältern und bestehendem arbeitsvertrag.» kathrin röggla, «wir schlafen nicht»

Der Stellenwert der Arbeit hat sich im Verlauf der menschlichen Geschichte grundlegend verändert. Erst in der Moderne definiert sich der Mensch über seine berufliche Tätigkeit, und Anerkennung und Wertschätzung des Einzelnen hängen in hohem Masse von seiner Erwerbsarbeit ab, die ihm die Einbeziehung in die Gesellschaft ermöglicht, während Arbeitslose langfristig von ihr ausgeschlossen werden. Nur wenig verabscheut unsere Hochleistungswelt so stark wie Untätigkeit. Darum würden Rentner so heftig jäten, meint Markus Werner. Je voller der Korb, desto rechtmässiger ihr Dasein.

Freilich ist die Ära der Vollbeschäftigung in Europa vorbei, und Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung oder, wie es im beschönigenden Soziologenjargon heisst, «bunte, flockige, prekäre Arbeits- und Einkommensformen» nehmen zu. In Griechenland oder Spanien finden mehr als 50 % der Personen unter 25 keinen Arbeitsplatz. In der Schweiz mit der geringsten Arbeitslosigkeit in Europa sind die diesbezüglichen Sorgen naturgemäss geringer. Ein «Prekariatsproblem, das mit jenem in Berlin oder dem Ruhrgebiet vergleichbar wäre, gibt es in der Schweiz nicht», verkündet der «Tages-Anzeiger» vom 15. Oktober 2012 stolz.

Bezieht man den Begriff «Prekariat» – im Jahr 2006 auf Platz 5 der von der Gesellschaft für Sprache bekanntgegebenen «Wörter des Jahres» – nur auf die Arbeitsverhältnisse, so versteht man unter prekärer Arbeit eine mit keiner oder nur geringer Beschäftigungssicherheit, mit niedrigem, nicht existenzsicherndem Einkommen, mit dürftiger sozialer Absicherung, fehlender kollektiver Vertretung und mangelndem Gesundheitsschutz. Erweitert man ihn aber, gelangt man zu einem Phänomen, das alle Sozialbeziehungen umfasst, und zu einer mehrzonigen Unterteilung unserer Gesellschaft: in eine Zone der Integration, eine der Entkoppelung, die Reservearmee der Arbeitslosen, und in eine dazwischen liegende Zone der Verwundbarkeit oder Prekarität. Atypische Beschäftigungsformen wie Teilzeit- und Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, freie Dienstverträge, Befristungen und Praktika nehmen zu, und vor allem Frauen sowie Personen mit Migrationshintergrund werden immer häufiger mit dem Phänomen der Armut trotz Erwerbsarbeit konfrontiert. Laut den Ergebnissen des Bundesamts für Statistik waren 2012 in der Schweiz 590 000 Personen von Einkommensarmut betroffen, davon rund 130 000 Erwerbstätige; rund 1,19 Millionen Personen waren armutsgefährdet.

Und so hanteln sich nicht nur viele Junge von Praktikum zu Praktikum, auch viele Ältere in vermeintlich sicheren Positionen fühlen sich immer unsicherer und gestresster, steht ihnen doch ständig die Drohung des Abrutschens in eine der anderen Zonen vor Augen, und rackern sich ins Burn-out oder in den Herzinfarkt. Schöne neue Arbeitswelt!


Herbert Danzer,
21.9.2014, 113. Jahrgang, Nr. 108.

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