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«Wandzeitung» vom 2.8.2015:

Alltägliches:

Wo sind die Hände?

Als erfahrene Pendlerin hat man schon einiges gesehen und gehört. – Ob frau will oder nicht. Manchmal lasse ich mich auf Beobachtungen ein, bin ja auch nur ein Mensch. Diskretion ist mir wichtig, ich finde gaffen abstossend und bedrohlich. Alltag ist, wenn Mitfahrende einschlafen. Die offenen, nicht selten geschminkten Münder sind immer wieder amüsant. Stinkende oder sitzübergreifende, uneinsichtige Leute sind ärgerlich und unangenehm. Ich selber versuche eine anständige Zugfahrerin zu sein, die sofort die Tasche auf den Schoss nimmt, wenn jemand mein Abteil ansteuert und ich versuche sogar zu lächeln, auch wenn mir mal nicht danach zu Mute ist. Obwohl ich meist Ohrenstöpsel trage, stelle ich meinen Sound sofort ab, wenn ich angesprochen werde. Aber glücklicherweise hab ich meistens meine Ruhe.

Mein Dämmerzustand wurde in der letzten Fahrt durch eine Beobachtung unterbrochen, die durch meinen Augenwinkel in mein Bewusstsein drang. Der Jüngling neben mir, in knackigen kurzen Hosen, fing an seine Beine zu streicheln. Er war im Gespräch mit seiner Freundin, die ihm gegenüber sass. Ich meinte, nicht richtig zu «sehen» und überprüfte meine Wahrnehmung im Zugfenster. Ich hatte mich nicht getäuscht. Er strich seiner Hosennaht entlang, über die haarigen Beine bis zu den Knien, umrundete seine Kniescheibe, beugte sich der Frau entgegen, aber nicht etwa um sie zu küssen, sondern um zu seinen Kniekehlen zu gelangen. Ich war peinlich berührt, konnte mich aber nicht ablenken. Hatte der Mann vergessen, wo er sich befand? Plötzlich war für mich interessant, was die beiden besprachen. Anscheinend waren beide Studenten und ihre Fachgebiete für mich nicht spannend. Der Gesprächsinhalt war nicht annähernd so sinnlich wie seine HAND-lung. Als er dann auch noch an seinem Schritt rumzupfte, wurde mir endgültig heiss. Aber nicht aus Erregung. Ich fragte mich, ob es sie nicht auch störte, ob sie ein solches Verhalten gewohnt war. Als ob sie mich gehört hätte, strich sie ihm auch noch rasch übers nackte Knie. Wollte sie ihn aufhalten, zum Weitermachen animieren oder war es nur ein Zufall?

Als ich in das Abteil vor mir schaute, sah ich einen Mann, der diese Sache anscheinend auch schon eine Weile beobachtet hatte. Für ihn war es ja direkt vor seiner Nase. Er hatte einen ungläubigen Gesichtsausdruck und ich war froh darüber, da ich mir schon überlegt hatte, ob ich so eine prüde Socke sei. Der nächste Bahnhof wurde angekündigt und es sah danach aus, als ob sich das Paar nun trennen würde. Sie stand auf und er machte eine wohlwollende Bemerkung zu ihrer Hose.

Ich fragte mich, wie es nun weitergehen würde, jetzt, wo er auf sich allein gestellt war mit seinen nackten Beinen. Aber erleichtert stellte ich fest, dass er sein anzügliches Verhalten sofort ablegte und sich seinem Handy widmete. Es blieb dabei und ich fing an, andere Fahrgäste anzuschauen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf ihre Hände. Wo die waren und was die machen. Alles unspektakulär nach dem Vorfall eben – meine Welt war wieder in Ordnung. Zumal mein Sitznachbar brav blieb und ich auch bald darauf aussteigen durfte.

 


Momo Appenzeller,
2.8.2015, 114. Jahrgang, Nr. 214.

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