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«Wandzeitung» vom 23.10.2015:

Die erste europäische Flüchtlingstragödie:

Die Schutzflehenden des Aischylos.

Fast zweieinhalb Jahrtausende alt sind die ältesten europäischen Dramen; leider sind von den über 80 Stücken des Aischylos nur sieben vollständig erhalten, darunter freilich die einzige erhaltene antike griechische Trilogie, die «Orestie», eines der beeindruckendsten dramatischen Werke der Weltliteratur.

Viel weniger bekannt ist sein Stück «Die Hiketiden» («Die schutzflehenden Mädchen»), das allerdings in den letzten Jahren dadurch, dass Elfriede Jelinek es 2013 als Grundlage für ihren Text «Die Schutzbefohlenen» verwendete, wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt wurde.

Worum geht es in diesem Stück des Aischylos? Die 50 Töchter des Danaos sind mit ihrem Vater aus Ägypten übers Mittelmeer nach Griechenland geflohen, weil sie sich dem brutalen Ehewerben ihrer Cousins, der Söhne von Danaos’ Bruder Aigyptos, entziehen wollen; ein Orakelspruch hat Danaos nämlich Gefahr vonseiten eines Schwiegersohnes angekündigt. Als Schutzsuchende wenden sie sich an Pelasgos, den König der peloponnesischen Stadt Argos, mit der Begründung, dass sie von der Argiverin Io abstammen, die vor langer Zeit von Argos nach Ägypten geflohen ist. Pelasgos sieht sich vor eine schwierige Entscheidung gestellt: Soll er den Fremden das Asyl verweigern und somit göttliches Recht missachten oder einen Krieg mit den Aigyptossöhnen riskieren, die die Flüchtlinge verfolgen?

Obwohl Danaos seine Töchter zuvor ermahnt hat, zurückhaltend aufzutreten («In eurer Stimme sei kein Klang von Dreistigkeit,/Nichts Prahlerisches melde die bescheidne Stirn […]/ Versteh' dich auf Nachgiebigkeit! Bist arm und fremd/ Und flüchtig. Kühne Sprache passt für Schwache nicht.»), erpressen sie Pelasgus mit der Drohung, sich an den Götterbildern zu erhängen. Die von diesem einberufene Volksversammlung gewährt das Asyl, gerade noch rechtzeitig, bevor die Verfolger an der Küste eintreffen. Weil der ägyptische Herold an seinem Auftrag, die Mädchen zurückzubringen, festhält, bedeutet das Krieg.

Was im letzten, nicht erhaltenen Teil der Trilogie, im Stück «Die Danaiden», vor sich ging, kann vermutet werden: Pelasgos verliert seine Herrschaft an Danaos, die Danaiden werden nach einer kriegerischen Auseinandersetzung zur Hochzeit mit den Aigyptossöhnen gezwungen, ermorden aber ihre Männer auf Anweisung ihres Vaters in der Hochzeitsnacht. Nur einer, Lynkeus, wird von seiner Frau Hypermestra verschont. Er wird später, nachdem Hypermestra in einem Prozess, den Danaos gegen sie angestrengt hat, freigesprochen worden ist, seine Brüder rächen und Danaos töten.

Der Wissenschafter Geoffrey Bakewell ist davon überzeugt, dass Aischylos in seiner Trilogie unter Verwendung des Mythos zeitgeschichtliche Schwierigkeiten und Gefahren thematisierte, die aus der Flut von Immigranten ins Attika der damaligen Zeit resultierten. Die Athener gewährten den Neuankömmlingen nicht die vollen Bürgerrechte, sondern schufen für sie den neuen Status der «Metökie», eine Einrichtung, von der sie auch im nächst«Hiketiden» beherzigt: «that newcomers could have destabilizing – nay, devastating – effects on a polis».

«Die Athener gewährten den Neuankömmlingen nicht die vollen Bürgerrechte, sondern schufen für sie den neuen Status der ‘Metökie‘,

eine Einrichtung, von der sie auch im nächsten Jahrhundert nicht abrückten. Denn sie hatten die Lektion der ‘Hiketiden‘ beherzigt: ‘that newcomers could have destabilizing – nay, devastating – effects on a polis‘.»


Herbert Danzer,
23.10.2015, 114. Jahrgang, Nr. 296.

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