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«Wandzeitung» vom 17.12.2015:

Nomen est Omen:

Musik erleben – Musikerleben.

Dass ein Metzger «Metzger» heisst, das mag ja noch gehen – wenigstens ist er nicht Chirurg. Kürzlich habe ich einen Orthopäden getroffen, der sich auf Hüfte und Knie spezialisiert hat: Dr. von Knoch (Zürich). Dass ein Geiger «Giger» heisst, ist schon speziell. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie einen hervorragenden Job machen. Die Würste von Metzger sind schmackhaft und weitherum bekannt, man kann sie auch in Winterthur auf dem Markt kaufen. Mit Dr. von Knoch habe ich keine persönlichen Erfahrungen, hingegen hat meine Assistentin mit einer schmerzhaften Hüfte den Rat von Dr. Knoch eingeholt: präzise Diagnose, klare Operationsindikation – kurz ein toller Knochenschlosser.

Paul Giger, der Geiger, von dem ich heute berichte, ist eine Ausnahmeerscheinung. An einer Vernissage in Zürich habe ich ihn vor zehn Jahren erstmals gehört. Es war ein tolles Erlebnis. Vor vier Wochen wollte eine Bekannte mir den Segantini-Film schmackhaft machen. Ein schwieriges Unterfangen, weil ich kein Kinogänger bin. Ich liess mich überreden. Wer den Film gesehen hat, weiss, dass sich der Besuch gelohnt hat. Die Musik hat mich völlig überrascht, deren Interpretation noch mehr. Die Filmmusik ist von Paul Giger gestaltet, komponiert und gespielt. Bei der Arie aus der Matthäus-Passion mit dem grossartigen Countertenor Robert Vitzthum sind mir Tränen in die Augen getreten. Paul Giger, das Streichquartett und der Sänger konnten – wie es sein muss – ohne Vibrato singen und spielen: Man hört die Reinheit der Stimmen wie sonst nie. Wenn mich etwas sehr beeindruckt, versuche ich, mit den Urhebern oder Gestaltern in Kontakt zu treten. Diese Marotte hat mir viele interessante Kontakte ermöglicht (Darius Milhaud, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Klaus Kinski, etc), und natürlich habe ich am kommenden Werktag Paul Giger angerufen um ihm meine Begeisterung – vor allem auch über das vibratolose Spiel – mitzuteilen. Als er mir gesagt hat, dass er nächstens ein Programm mit Geige und Cembalo spielen würde, war ich sicher, dass ich dabei sein würde. Aber im Bahnhof St. Gallen? Musik im Bahnhof? Ja, im dritten Stock gibt es einen Festsaal in historischem Gewand.

75 Minuten lang war atemlose, atemberaubende Spannung im Saal. Paul Giger erklärte, dass er kein Programm gedruckt habe, wir würden Bach, Couperin, eigenes und anderes hören, zum Applaudieren würde wir allerdings nicht kommen, höchstens vielleicht am Schluss. Es war tatsächlich so, dass beide Musiker, Paul Giger und die Cembalistin Marie-Louise Dähler, alle Stücke derart aneinanderreihten und verknüpften, dass niemals eine Pause entstand. Dass das Cembalo auch als Hackbrett diente, die Geige als Perkussions-Instrument, liess das Publikum staunen. Die berühmte Arie aus dem Film wird auch gespielt, diesmal in der Fassung für Geige und Cembalo.

Noch kurz zu Paul: Ein reiches Leben als Geigenlehrer, Komponist, Konzertmeister, Solist und Kammermusiker und trotz Kunstpreis und weltweiten Erfolgen ein völlig unambitioniertes Auftreten, machen ihn zu einem neuen Typus Musiker: ein Star, der es nicht zeigen muss.

Der Abend gehört zu den schönsten der letzten Jahrezehnte.

 

 


André Bernhard,
17.12.2015, 114. Jahrgang, Nr. 351.

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