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«Wandzeitung» vom 7.7.2015:

Wie soll man sich denn so was vorstellen können:

Wo ist denn der Winter im Sommer?

Als Knäblein ist’s für Fridolin keine zentrale Frage gewesen, ob er mit seinen Lieben auf der Erdkugel lebt oder auf einer Platte, im Süden oder im Norden, auf der Scheibe oder drunter. Mehr Bedeutung hat für ihn die Jahreszeit gehabt: der Winter – aber nur im Sommer. Ausgerechnet wenn die Wiesen saftig grün gewesen sind, während der heissen Monate, sind ihm eiskalte Gedanken im Hirn rumgegeistert: «Wo könnte nur der Winter stecken?» Nach der regelmässigen Konsultation der Eltern ist er amigs nur stinkig geworden, weil sich die ollen Deppen voll an die abgedroschene Antwort geklammert haben: «Eben! Der ist auf der anderen Seite der Welt.»

Diese von ihm für zu simpel befundene Sichtweise hat Fridli bös an seinen Herrschaften zweifeln lassen. Fort und fort kopfschüttelnd hat er seinen Fussball rundum studiert und wunderfitzig jeden Quadratmillimeter der mütterlichen Früchteschale inspiziert: Nacheinander die beiden schönen Sachen von sich gestreckt, mal in die Höhe gehalten, mal seinen Füssen entgegen und die seltsamsten Verrenkungen gemacht, die unterschiedlichsten Perspektiven eingenommen. Mürrisch und resigniert hat er den jährigen Erdumlauf um die Sonne im Tempo des gehetzten Affen nachempfunden und in den noch nicht vorhandenen Bart gemurmelt: Er könne die Kugel wie die Platte von vorne betrachten, von hinten, von ganz unten und absolut oben; aus allen möglichen Perspektiven also. Er bemühe sich bis nahe an den Wahnsinn, die Gegenstände zu drehen und zu wenden, sich selbst derart in Pose zu werfen, dass er sich dabei fast die Glieder breche: In jeder Situation sei es Sommer. «Wo immer ich mit Körper und Geist bin, wohin auch immer ich sehe, es ist das Stadium der Hitze. Ich kann den Winter nirgendwo finden.» Die frostige Jahreszeit kann sich gewiss nicht auf dem für uns unsichtbaren Rücken unserer Mutter Erde verstecken. So wunderbar einfach ist doch die Welt, wenn sich der Mensch der Logik nicht querstellt.

Eines Frühlings sind auch bei Fridli neumödige Gedanken hochgekommen: Er hat die Mädchen entdeckt, die Schönheit der Natur, die Köstlichkeit von Speis und Trank. Und freilich ist ihm dann im folgenden Sommer der Winter aus dem Gedächtnis entschwunden. Sein Leben hat ihm nun manchen Höhepunkt geschenkt und den einen oder anderen Rückschlag verordnet. Plötzlich indes, irgendwann während seiner langen Jahre im Lot, hat ihn die Winterfrage eingeholt: Sein Papa hat ihn während seiner Gofenzeit allemal auf den Tödi aufmerksam gemacht, wenn sie gemeinsam auf einen der sieben Churfirsten gekraxelt sind und hoch über dem Walensee ausgiebig Rast gehalten haben.

Dem Fridli ist doch damals auf der Hochebene des höchsten Glarner Bergs ein Schneefeld aufgefallen, das ihm den Tödi als amalgamierten Beisszahn mit schneeweisser Füllung hat erscheinen lassen. Beim x-ten Betrachten dieser zauberhaften Anhöhe aus dem Schwander Blickwinkel sowie der Erleuchtung, dass im vergangenen April die Schneegrenze langsam und unauffällig höher und höher den Berg hochgestiegen ist, weiss er es plötzlich ganz genau: Dort oben, auf dem Gipfel oberhalb des Grosstals, zuoberst auf dem anmutigen Tödi höckelt der Winter während des Sommers.


Guido Blumer,
7.7.2015, 114. Jahrgang, Nr. 188.

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