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«Wandzeitung» vom 9.9.2015:

Wikipedia um ein Haar gesperrt:

Russland – noch von dieser Welt?

Am 24. August begannen russische Provider auf Geheiss der Medienbehörde Roskomnadsor den Zugang von Wikipedia zu sperren. Der Grund: Ein Artikel über handgerolltes Haschisch, das in Russland verboten ist. Doch kurz darauf blies die russische Zensur die Übung ab – angeblich war der Artikel zu ihrer Zufriedenheit abgeändert worden. Noch am Tag davor hatte sich Wikipedia klar geweigert, den Artikel zu blockieren.

Obwohl das Thema wieder fast vergessen ist, hatte der kurze Machtkampf epochale Bedeutung – schliesslich ging es darum, ob sich Russland vom «Welt-Wissen» und damit von der übrigen Welt abkoppelt. Es wäre der erste massive Eingriff in die noch weitgehend freie russische Internetsphäre gewesen, die eine komplette Gegenwelt zu den offiziell gesteuerten Medien darstellt.

Bisher setzte die Führung auf die journalistische Selbstzensur und die unkritischen Konsumgewohnheiten der mehrheitlich fernsehdressierten russischen Bevölkerung. Doch je mehr die offizielle Wahrheit mit jener im Netz kontrastiert, desto mehr stören die «Misstöne», und die Versuchung wächst, sich direkt einzumischen. Einmal mehr stellt sich die Frage, ob Russland die offen autoritäre chinesische Linie einschlagen wird. Technisch wäre das leicht lösbar, und sicher hat der gewaltige Sicherheitsapparat in Moskau bereits alle Varianten vorbereitet und getestet, so dass – wie bei den Atomraketen – ein Knopfdruck zur Auslösung genügen würde. Derselbe Apparat weiss aber auch, dass eine abrupte Umstellung auf ein «chinesisches Internet» – so wie der Abschuss von Atomraketen – unvorsehbare Folgen haben könnte. Im Unterschied zu den Chinesen, die nur ein zensuriertes Internet kennen, würden sich die Russen kaum ohne Widerstand von jenen Freiheit trennen, an die sie sich längstens gewöhnt haben.

Wäre ein solches «Back to the Future» mit der Wiederherstellung eines Wissens- und Medien-Monopols mit gleichzeitiger Abschottung nach aussen à la Sowjetunion heute noch möglich? Auch dazu lieferte Wikipedia am 4. August eine eindeutig negative Antwort, indem sie auf ihrer Webseite gleich die technischen Angaben lieferte, wie die angedrohte Internetsperre notfalls umgangen werden könnte.

Das Wort «Zensur» ist in Russland unmittelbar mit dem Begriff «Samisdat» (deutsch «Selbstverlag») verbunden. Er steht für all die Schriften verbotener AutorInnen, die in der Sowjetunion heimlich abgetippt oder von Hand abgeschrieben und vertrieben wurden. Genau so zäh wie der sowjetische «Kontrollzwang» im Kreml hält sich die Bereitschaft in der Bevölkerung, allfällige Verbote und Einschränkungen spielerisch zu umgehen. Die Computertechnik bietet dazu noch viel mehr Möglichkeiten als früher. Nicht zufällig ist Russland noch heute eine Hochburg für Hacker und Torrent-Piraten.

Noch etwas zeigte der Wikipedia-Konflikt: Die Unentschlossenheit innerhalb der russischen Führung bezüglich Internetzensur. Es ist längst bekannt, dass sich die Ansichten von Hardlinern und Gemässigten dazu krass unterscheiden. Ein Schliessen des «Sicherheitsventils» Internet könnte den Druck im Innern bis zur Unerträglichkeit ansteigen lassen und zu Rissen im System führen.

 


Eugen von Arb,
9.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 252.

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