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«Wandzeitung» vom 9.10.2015:

Weltliches und kirchliches Russland im Zwist:

Den Teufel auf die Hörner genommen.

Es könnte kaum ein schöneres Bild für die Kluft zwischen weltlichem und dem kirchlichem Russland geben: Ein Mephistopheles-Gesicht an der Fassade eines Petersburger Jugendstilhauses, das diabolisch direkt über die schmale Strasse hinweg zum goldenen Zwiebeltürmchen einer Kirche hinübergrinst. Dieser Teufel musste kürzlich dran glauben. Was ein ganzes Jahrhundert mit Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg und Blockade nicht fertigbrachte, haben religöse Fanatiker mit der Spitzhacke in wenigen Minuten geschafft. Exakt am Tag, nach dem das Kreuz der Kirche aufgerichtet worden war, schickten sie Mephistopheles zum Teufel.

Obwohl Täter und Organisatoren – ein Alpinist, ein «gläubiger» Unternehmer, ein kirchenhöriger Bezirksabgeordneter der Kremlpartei «Einiges Russland» – schon nach ein paar Tagen ermittelt waren, wurde bis jetzt niemand zur Rechenschaft gezogen. Der eine Vandale beteuert, das Teufels-Relief sei brüchig gewesen und hätte auf die Passanten herunterfallen können, der andere war so um die Ordnung in seinem Bezirk besorgt, dass er die Trümmer auf dem Trottoir schleunigst im Müllcontainer verschwinden liess. Soviel Sorge um Sicherheit und Ordnung kann doch wohl nicht bestraft werden?!

Die Empörung in der Bevölkerung der Kulturhauptstadt liess nicht auf sich warten – trotz drakonischer Strafen für unbewilligte Demonstrationen versammelten sich kurz darauf hunderte Petersburgerinnen und Petersburger zu einer spontanen Protestaktion vor dem Mephistopheles-Haus, um ihre Wut gegenüber der Barbarei auszudrücken. Die Polizei verhinderte zwar «aus Sicherheitsgründen» die Anbringung eines Transparents mit der Mephisto-Reproduktion an der Fassade, aber ansonsten liess sie die Leute gewähren und regelte den Verkehr.

Gleichzeitig mit dem Protest gegen den Vandalenakt war diese Kundgebung aber auch ein Demonstration gegen den wachsenden Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche. Tatsächlich ist kaum zu glauben, zu was für einem Machtapparat die früher unterdrückte Kirche innerhalb weniger Jahre geworden ist. Ihr Aufstieg vollzog sich praktisch parallel zum Aufstieg von Präsident Putin und seiner Partei. Ebenso unglaublich ist, wieviele der einst stramm atheistischen KGB-Leute innert Rekordzeit zu Tiefgläubigen mutierten, die demütig in die Kirche eilen, Kerzchen halten und Ikonen küssen.

Umgekehrt gibt es heute viele Russen, deren Eltern selbst zu Sowjetzeiten ihren Glauben bewahrten und nichts mit der offiziellen Kirche zu tun haben wollen, die schon damals mit KGB-Spitzeln durchsetzt war. Ihnen missfällt es, dass ihre geistigen Werte nun durch eine Organisation besetzt wird, die so sehr nach Macht und Reichtum strebt. Um sich abzugrenzen, bezeichnen sich viele von ihnen als «Atheisten» - so paradox dies auch klingen mag.

Aber im heutigen Kontext bedeutet es nichts anderes als «weltlich». Diese Menschen stehen für einen modernen Staat, der sich klar gegen die Einmischung durch die Kirche in Politik und Bildung abgrenzt. Dabei geht es auch um die Bewahrung jener fortschrittlichen Werte, die der Sozialimus durchsetzte. Sie weigern sich, die ausgetretenen Wege in die Vergangenheit einzuschlagen.

 

 


Eugen von Arb,
9.10.2015, 114. Jahrgang, Nr. 282.

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