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«Wandzeitung» vom 9.11.2015:

Vom alltäglichen russischen Chauvinismus:

Russischer und ukrainischer Schnabel.

An einem Betriebsfest machen sich zwei Kollegen über ein ukrainisches Wort lustig, das für russische Ohren lustig klingt und wiederholen es immer wieder. Da sticht plötzlich eine wütende Stimme durch das Gelächter: «Jetzt lasst um Himmels Willen die Ukraine in Ruhe. Mir reicht dieses Geschwätz darüber, was die Ukrainer alles falsch machen. Jedes Land hat das Recht auf seine Sprache!» Betretene Stille und Staunen – ausgerechnet der sonst so stille und wortkarge Sergei hat die beiden zum Schweigen gebracht, die sich jetzt verlegen rechtfertigen, sie hätten es ja nicht so gemeint, usw.

Ein kleines Beispiel für den ganz alltäglichen russischen Chauvinismus, an dem sich in der Regel niemand stört. Kein Wunder kommt der Protest von Sergei, der als Russe in Usbekistan aufgewachsen ist und erst als Student nach Petersburg kam. Als «Zugezogener» hat er seine Erfahrungen gemacht. Wer nicht astreines Russisch spricht, outet sich hier sofort als Provinzler oder Ausländer.

Neben allerlei Witzen dichtet man jeder Region und Nationalität ihre Besonderheit an. So gelten die Esten und Finnen als langsam und begriffsstutzig, Kaukasier sind allesamt kriminell, Tadschiken und Usbeken primitiv und hinterwäldlerisch, usw. Sogar meine Schwiegermutter, die sich den Garten auf der Datscha von einem ukrainischen Gastarbeiter für ein Butterbrot umgraben lässt, bezeichnet ihn zum Dank dafür als «verschlagen». Einem «Chochol» (nach dem Haarzopf der ukrainischen Kosaken benannt) darf man auf keinen Fall über den Weg trauen – besonders jetzt nicht, wo sich die Ukraine von Russland losgesagt hat.

Dies entspricht ganz der Stimmung, die vom russischen Staatsfernsehen verbreitet wird: Schlägereien im Parlament, Proteste und Wirtschaftsmisere werden gezeigt. Grenzenloses Chaos in einem Land, das scheinbar von lauter Idioten regiert wird. Darin steckt nur eine Botschaft: Die Ukraine kann ohne uns nicht existieren! Paradoxerweise bezeichnen dieselben Leute Kiew als Wiege der russischen Kultur und regen sich auf, wenn man sie dort als «Moskal» (ukrainischer Spottname für Russen) bezeichnet.

Wer ein Land nicht ernst nimmt, marginalisiert dessen Sprache. Nichts verletzt ein Volk mehr, als wenn es nicht reden darf, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Das wurde kürzlich wieder klar, als die Polizei die Moskauer Bibliothek für ukrainische Literatur durchwühlte und ihre Leiterin wegen angeblicher Verbreitung extremistischer Literatur unter Hausarrest setzte.

Aber auch umgekehrt wird die «Sprachen-Geisel» geschwungen – Russen werden in ex-sowjetischen Ländern oft benachteiligt, und auch die Ukraine tut sich schwer mit ihrer Mehrsprachigkeit. Obwohl sich Poroschenko als Präsident der russischen und ukrainischen Landeshälfte positioniert, fehlt bisher ein klares Bekenntnis zu zwei gleichberechtigten Landes- und Amtssprachen – ganz zu schweigen von den übrigen Sprachminderheiten.

Will das Land nicht auseinanderfallen, so kommt es darum nicht herum. Doch dafür muss es zuerst begreifen, dass nicht die Vereinheitlichung der Kultur, sondern nur die Gleichberechtigung aller Minderheiten die Loyalität und den Zusammenhalt garantieren.


Eugen von Arb,
9.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 313.

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