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«Wandzeitung» vom 15.6.2014:

Sans-Papiers:

Rote Pässe und (un)sichtbare Menschen.

«Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.»

Die Aussage des deutschen Lyrikers Bertold Brecht hat auch fast 70 Jahren nach ihrem Erscheinen Gültigkeit. Im Kanton Zürich leben Tausende Menschen, die keine Aufenthaltsbewilligung besitzen, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben mit, neben, unter uns – und existieren irgendwie dennoch nicht, zumindest nicht in unseren Amtsstuben. Diese «Unsichtbaren» leisten wertvolle Arbeit, sie betreuen unsere Kinder, bewirtschaften unsere Felder oder putzen unsere Häuser, während ihre Kinder hier in die Schule gehen. Für Alltagsprobleme können sie sich lediglich an Fachstellen wie die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich SPAZ oder medizinische Netzwerke wenden. Begleitet von der Furcht entdeckt zu werden, versuchen sie ein unauffälliges Leben zu führen. Ein Leben, das bestimmt wird von Angst und Alleinsein, aber gleichzeitig auch von Mut, Selbstbestimmtheit und Wille erzählt. Ein Wille, der stärker ist als der Besitz eines roten Passes.

Es ist heuchlerisch, wie unsere Gesellschaft mit diesen Sans-Papiers umgeht: Wir nehmen ihre billige, wichtige Arbeit in Anspruch, aber gleichzeitig verweigern wir ihnen Grundrechte. Warum? Weil sie in der Geburtslotterie das falsche Los gezogen haben und in einem Land geboren wurden, das ihnen wenig Perspektiven bietet und sie trotzdem den nachvollziehbaren Wunsch haben, ein menschenwürdiges und glückliches Leben zu führen. Oder aber sie wurden in der Schweiz von Eltern ohne Aufenthaltsbewilligung geboren und wachsen mit ihren Nachbarskindern im Wissen auf, dass sie nur mit sehr viel Glück eines Tages dieselben Freiheiten haben werden wie diese.

Dass viele Sans-Papiers die irreguläre Aufenthaltssituation der Gefahr einer Abschiebung in die Perspektivenlosigkeit vorziehen, ist angesichts der restriktiven Migrationspolitik nur allzu verständlich. Das muss nicht sein. Im Gegensatz zu der Schweiz kennen zum Beispiel zahlreiche europäische Länder umfassende Regelungen zur Regularisierung von Sans-Papiers.

Doch ich habe Hoffnung: Wenn kommenden Sommer wieder Tausende in die Ferien fahren, um Sonne und Meer zu geniessen, genau an die Orte, von denen zahlreiche Sans-Papiers kommen, wird ihnen vielleicht bewusst, dass ihnen dank ihrem roten Pass – einem Geburtsprivileg sondergleichen – fast alle Tore offenstehen, während diese Tore für zahlreiche Menschen geschlossen bleiben. Wir könnten uns getrost grosszügiger und gelassener zeigen und diese Tore auch anderen Menschen öffnen. Wir verlieren nichts, aber Tausende von Sans-Papiers haben viel zu gewinnen: ein Leben in Freiheit und Anerkennung.

 

 


Mattea Meyer,
15.6.2014, 113. Jahrgang, Nr. 10.

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