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«Wandzeitung» vom 8.11.2015:

Ein trauriges Lied und ein bisschen Hoffnung:

Wie es ist ...

Im Zug zu sitzen. Rauszuschauen. Nichts zu denken. Das Mittelland fährt an mir vorbei. Sekunden, Minuten, Stunden. Im Kopfhörer fragt er mich ... wo bist du gewesen. Warum bist du so kalt? Möchtest du nicht reden? Welche Farbe hat dein Frosch im Hals? Draussen heult der Regen, nur Schweigen füllt den Raum.

Der Zug rattert durchs Land. Gösgen zu meiner Linken. Wer wohl freiwillig in der Nähe des Kraftwerks lebt? Ob die Menschen statt eine, zwei oder gar drei Jodtabletten-Packungen gekriegt haben? Ob die nachts ruhig einschlafen können?

Ich suche deine Augen, doch dein Blick weicht meinem aus. Du beisst dir auf die Lippen, es fällt dir gar nicht auf. Und mit einem Kratzer auf der Stimme, ganz langsam packst du aus. Was soll ich davon halten, ich weiss es nicht genau. Es waren grosse Stücke, jetzt bleibt nur Schutt und Staub.

Bern, die Aare zu meinen Füssen. Sommerträume werden wach. Eifrig und konstant schlängelt sich der Fluss durch die Hauptstadt. Blaue, gelbe Gummibote schwimmen auf ihr. Heute nicht. Heute ist es kalt, grau, nass. Wie im Lied. Wenig einladend sind Wasser und Ufer. Heute plantschen keine Kinder im Marzili. Heute beweisen keine Jungs ihren Mut.

Du hast Blut auf deinen Lippen, es fällt dir gar nicht auf. Deine Hände zittern, und deine Schultern auch. Dein Körper ist am Beben, löst sich darin auf. Verpackt in tausend Tränen lässt du alles raus. Was soll ich davon halten, ich weiss es nicht genau. Es waren grosse Stücke, jetzt bleibt nur Schutt und Staub. Ich gehe jetzt nach Hause, ruf mich an, wenn du mich brauchst. Wenn man die Augen zumacht, klingt der Regen wie ein Applaus.

Heute will man nicht denken. Heute will man sich nicht das Schicksal von Millionen von Flüchtlingen vorstellen müssen. Heute will man keine Begriffe wie «Rechtsrutsch» und «Meinungsmacher» und «Massenmedien» hören. Heute will man dem Regen zuhören. Verpassten Träumen nachträumen.

Wenn man die Augen zumacht, klingt der Regen wie ein Applaus.

Heute will man sich trotz Regen und Nebel der Erinnerung des vergangenen Sommers hingeben. Lavendel in der Nase. Sonnenblumenfelder in der Hand. Heute will man der andere sein. Nicht die eigenen Sorgen mehr ertragen. Nicht das eigene Leben verantworten, formen, fühlen. Heute will man dankbar sein, dass man dem traurigen Lied zuhören und sich dabei solche Gedanken machen kann. Dass man keine Überlebengsangst haben muss. Dass man durch das Mittelland fahren kann, ohne zu flüchten, aber um Freunde zu besuchen. Heute ist man froh, sich selbst zu sein.

Die Tür die gerade zufällt, hörst du die auch? *

 

* Regen von Gloria.

 


Oriana Ziegler-Somarriba,
8.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 312.

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