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«Wandzeitung» vom 12.4.2015:

Repression, Rechtsstaat und Service Public:

Die Jahrringe des Staates.

«Wieso sind Sie eigentlich als blinde Etatistin verschrieen? Sie vermitteln mir im Gespräch ein viel differenzierteres Bild.» Die Journalistin machte einen ziemlich verwirrten Eindruck, als sie mich das fragte. Nun, Schubladen sind das beliebteste Möbelstück der schreibenden Zunft. Aber die einen oder anderen zimmern sich tatsächlich ein neues Möbel, wenn’s nicht mehr passt. So auch diese Journalistin.

Ich eine blinde Etatistin? Klar, ich habe den Vorwurf auch schon gehört, tat ihn aber immer als lächerlich ab. Ich bin ein Kind der 80er- Bewegung – also der Politisierungswelle, die aus dem Staat Gurkensalat machen wollte und die freie Sicht aufs Mittelmeer forderte. Der Staat stand uns damals als Repressionsmacht gegenüber. Sein Gesicht war hinter Tränengas und Wasserwerfern versteckt. Als sich der Nebel verzog, brach die Mauer in Berlin ein und der Kalte Krieg war zu Ende. Damit auch die Epoche der gezähmten sozialen Marktwirtschaft. Die Freigabe des Wechselkurses und die rasante technologische Entwicklung entfesselten den Kapitalmarkt. Es folgte, was Jean Ziegler mit Casino-Kapitalisums meinte. Damit einher ging eine Privatisierungwelle. Die Investoren hatten es auf Eisenbahnen abgesehen, Telekommunikation und Elektrizitätsmarkt. Der Staatsbegriff änderte sich radikal. Es ging nicht mehr um den republikanischen Staat der Freisinnigen, sondern um den Service-Public-Staat der Linken.

Harald Müller, Professor für Internationale Beziehungen, erläutert in seinem Buch «Amerika schlägt zurück» ein anschauliches Bild. Man solle sich die Entwicklung des modernen Staates in Jahresringen vorstellen. Beim jungen Staat wurden die Instrumente des Gewaltmonopols geschaffen: Militär, Polizei, Geheimdienste, Steuererhebung und Gerichtsbarkeit. In einer zweiten Phase – quasi in der zweiten Gruppe von Jahrringen – bildeten sich die demokratischen Instrumente heraus. Es war die Zeit des bürgerlichen Aufstands gegen den Adel, die Geburtsstunde der Liberalen. Die Parlamente und die Verwaltungen entstanden so wie die kostenlose Volksschule. In der dritten Phase traten die leistungs- und wohlfahrtsstaatlichen Elemente dazu: die Sozialversicherungen, die Fürsorge und das Gesundheitswesen. Freiheit und Gleichheit wurden damit durch Solidarität ergänzt. Der moderne Staat nach der Idee der Aufklärung war geboren. Hält man sich dies vor Augen, werden viele politische Debatten verständlicher. Die Rechte will vereinfacht gesagt den Staat zurückentwickeln. Die liberale Rechte tut sich schwer mit ihrem Erbe. Statt klar und unmissverständlich für den Rechtsstaat und die demokratischen Errungenschaften einzustehen, laviert sie bei Fragen der Grundrechte und dem Ausbau der Demokratie. Damit übernimmt die Linke zunehmend ein Doppelrolle: Einerseits ist sie die klassische Hüterin des Sozialstaates, also der jüngsten Pflanze des modernen Staates. Andrerseits muss sie je länger desto häufiger für den Rechtsstaat und die Demokratie in die Bresche springen. Aus dem Staat Gurkensalat machen möchte ich nicht mehr. Aber einen Staat der die Freiheit, die Gleichheit und die Solidarität schützt, sehr wohl.

 

 


Jacqueline Fehr,
12.4.2015, 114. Jahrgang, Nr. 102.

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