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«Wandzeitung» vom 10.5.2015:

Reisebericht:

Lachen in Indien.

Man sagt, Indien sei extrem und werde deswegen von Besuchern entweder geliebt oder gehasst oder beides. So ist es bei mir. Gerade heute habe ich einem Bus nachgerufen, er solle endlich mal die Klappe halten, als er laut hupend an mir vorbeifuhr. Dabei hupen hier alle Fahrzeuge ununterbrochen und in unterschiedlichen Lautstärken, Tonarten und Melodien und es macht überhaupt keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, sonst würde man sich den ganzen Tag aufregen müssen. Noch weniger Sinn macht es, einem Bus den Mund zu verbieten. Doch der kurze Ausbruch tat gut. Die Frau, bei der wir gerade ein Glacé kaufen wollten, lachte. Sie fand es lustig, dass ich mich aufregte. Die Inder nehmen es also mit Humor. Gut für sie, schliesslich müssen sie jahrein, jahraus in diesem lauten, stinkenden Chaos leben. Doch der Humor siegt. Dazu eine weitere Anekdote.

Sie ereignete sich auf unserer ersten Zugfahrt in Indien vor ein paar Tagen. Es war 6 Uhr morgens als wir unsere Tickets am Bahnhof in Madurai kauften. Bei knapp 30 Grad Lufttemperatur und 65 Prozent Luftfeuchtigkeit war es noch einigermassen frisch. Einige Männer sprangen bereits auf den einfahrenden Zug auf, um sich einen Platz zu sichern. Die restlichen Menschen warteten bis der Zug hielt und drängten sich dann unter vollem Körpereinsatz in den Zug. So etwas hatten wir noch nie gesehen.

In der Schweiz funktioniert drängeln ja viel perfider. Man versucht einfach schneller zu sein oder dem anderen keinen Vortritt zu lassen, aber ohne ihn zu berühren. Dieses Tabu existiert hier keineswegs. Männer, Frauen, Junge, ja sogar Alte, Gebrechliche würgten sich gegenseitig in den Zug hinein. Da wussten wir, dass wir verloren hatten und waren umso erstaunter, als wir am Ende doch noch einen Platz fanden. Wir sassen einem älteren, zahnlosen Ehepaar gegenüber, das uns unverhohlen musterte. An der nächsten Station setzten sich mehr Menschen zu uns ins Abteil. Ein Vater hob seine drei Kinder auf die Gepäckablage, die sich oberhalb unserer Köpfe befand. Dann gab er ihnen etwas Kuchenartiges zum Frühstuck und schon bald regnete es, zuerst vereinzelt, dann immer exzessiver Kuchenbrösmeli auf unsere Köpfe und Nacken herunter. Mein Sitznachbar war stärker betroffen als ich. Doch zum Glück hatte er eine Glatze, so konnten sich die Brösmeli nicht in seinen Haaren verlieren. Als er merkte, was auf seinem Kopf los war, stand er auf und wischte sich die Sauerei vom Schädel. Ich musste lachen, weil es mir so abwegig erschien, dass man im Zug sitzend, nichts Böses ahnend von oben herab mit Essen attackiert wird. Der Vater der Kinder lachte auch und der Mann mit der Glatze lachte auch und setzte sich auf die andere Seite des Abteils. Kein böses Wort. Nichts. Nur erlösendes Lachen.

Zum Abschluss der Zugfahrt wollten mehrere Reisende ein Foto mit uns machen. Fremde Menschen standen Schlange und setzten sich abwechslungsweise neben uns hin, reichten sich ihre Handys und machten zahlreiche Fotos. So fühlt es sich also an, benutzt zu werden, dachte ich und lächelte.

 


Anita Blumer,
10.5.2015, 114. Jahrgang, Nr. 130.

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