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«Wandzeitung» vom 10.11.2015:

Weniger ist mehr:

Die neue Komfort-Zone.

Wenn man die Heimat verlässt, um die grosse weite Welt zu erkunden, dann wird das heutzutage manchmal auch als verlassen der Komfort-Zone bezeichnet. Für uns Schweizer gilt das im doppelten Sinn. Diese Zone ist ein Ort, an dem man sich vertraut und zu Hause fühlt. Aber Komfort bedeutet auch Bequemlichkeit und Luxus und diese Dinge sind in fast in jedem Land rarer als in der Schweiz. Man könnte meinen, wir armen Schweizer hätten es demnach besonders schwer, wenn wir unsere Insel der Sicherheit, Pünktlichkeit und Sauberkeit verlassen.

Doch dem ist nicht unbedingt so. Denn Menschen sind eine erstaunlich anpassungsfähige Spezies. Zwar würden wir kaum im Dschungel überleben, doch einmal unterwegs geht es ruckzuck bis der Begriff Komfort eine völlig neue Bedeutung erlangt. Ein Beispiel ist der minimale oder gar fehlende Gebrauch von vielen Dingen. Stellen Sie sich vor, sie besässen fünf T-Shirts, zwei Paar Socken, vier Paar Unterhosen, zwei BH, einen Pulli, zwei kurze und zwei lange Hosen, zwei Kleider, ein Handtuch, ein paar Schuhe, ein Kartenspiel, Jonglierbälle, ein Necessaire, Turnschuhe, Flipflops, einen alten Laptop, einen Kindl und ein Handy. In Ihrer Wohnung würde es aussehen, als wären Sie noch gar nicht eingezogen. Auf Reisen bedeutet dieses Inventar 30% Übergewicht und unnötiger Ballast. Weniger ist mehr.

Ein weiteres Beispiel: Möbel. Im Iran gibt es in den Häusern oft kein einziges Möbelstück, sondern ein grosses, mit Teppich ausgelegtes Wohnzimmer, das je nach Bedarf in Minutenschnelle zum Schlaf- oder Esszimmer umgewandelt werden kann. Für Ersteres werden Kissen, Laken und ein paar dünne Matratzen oder Decken aus dem Schrank geholt und voilà. Fertig ist der Schlag für drei bis neun Leute. Am Morgen wird alles wieder zusammengefaltet und versorgt und ein Plastiktischtuch ausgelegt, das je nachdem, wie weit man es auseinanderfaltet, als riesige Tafel oder bescheidener Tisch dient. Und um das Tischtuch sitzend, isst man Frühstück. Allerdings ist das Sitzen auf dem Boden zu Beginn eine Herausforderung. Typischerweise ist es dem Westeuropäer zunächst zu anstrengend. Doch mit der Zeit wird der Rücken stärker und die Hüften flexibler. Ein neuer Lifestyle ist geboren.

Erzogen, mit Messer, Gabel und Löffel zu essen, fühlt es sich zunächst unsauber oder auch unhöflich an, mit der Hand zu essen. Doch ist dieser Reflex erst einmal überwunden, wird das Essen mit der Hand zu einer sinnlichen Erweiterung des kulinarischen Genusses. Man benutzt die Finger der rechten Hand, um ein mundgerechtes Häufchen auf dem Teller zu formen und es sich dann in den Mund zu führen. Manchmal muss man mit der Zunge ein bisschen entgegen kommen, damit nichts verkleckert wird. Die Zunge schnellt rasch heraus, wenn das Essen kommt. Das kann man in Indien überall beobachten und es hat einen gewissen animalischen Charme.

Ja, die Welt ist voller Geheimnisse und Offenbarungen. Ehe man sich versieht, wird die mehrstündige Fahrt in einem alten Bus, der in haarsträubendem Tempo über eine halbfertige Strasse fliegt, auf Sitzen, die nur dadurch zusammengehalten werden, dass man auf ihnen sitzt, zum Inbegriff der neuen Komfort-Zone.

 


Anita Blumer,
10.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 314.

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