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«Wandzeitung» vom 11.9.2015:

Europäische Werte?

Das Bild des toten Aylan.

Ein totes Kind, ertrunken auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien in das sicher scheinende Europa. Ein kleiner Körper, leblos angespült an den Strand: Die Fotos des dreijährigen Aylan haben viele erschüttert. Die Betroffenheit war gross, eine Debatte über die Rolle von Bildern und die Grenzen des Journalismus hob an, Politiker äusserten sich – und auch die Boulevardmedien, denen nie eine Diffamierung von Asylsuchenden zu schäbig war, druckten Sätze, in denen die europäischen Werte hochgehalten wurden.

Europäische Werte? Die Grundrechte-Charta ist eigentlich noch nicht so alt, als dass man sie in Erinnerung rufen müsste. «Jede Person hat das Recht auf Leben», heisst es da gleich zu Beginn. Europa gründe sich auf die «unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität». Man muss nicht das Bild des ertrunkenen Aylan gesehen haben, um den Graben zu erkennen, der zwischen dem erklärten Anspruch und der tödlichen Wirklichkeit liegt.

Der Graben ist das Mittelmeer, in dem vor Aylan allein in diesem Jahr Hunderte, Tausende Menschen ertrunken sind. Ein Festungsgraben, bewacht von einer europäischen Politik, die mit Militär gegen Schleuser zieht. Dabei ist das Geschäft mit der Flucht nur eine Folge der Abschottung. Über die wahren Gründe dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen, soll nicht gesprochen werden.

Was sind diese Gründe? Die europäischen Staaten gründen ihren ökonomischen Vorsprung und ihre politische Vorherrschaft auf jahrhundertlange Ausbeutung der aussereuropäischen Welt. Sie sind Teil einer globalen Ordnung, die ihre Konflikte um Ressourcen und Hegemonie aus den kapitalistischen Zentren in die Peripherie auslagert. Was Europa in seiner gegenwärtigen Form tut, wird dominiert von den Interessen nicht zuletzt derer, die zum Beispiel durch Rüstungsexporte daran verdienen, dass auf der Welt Zustände entstehen, aus denen Menschen fliehen müssen.

Es wird jetzt viel von europäischer Solidarität geredet, doch gemeint sind Verteilschlüssel. Die Bearbeitung der »Flüchtlingskrise», die in Wahrheit eine Krise Europas ist, fällt immer weiter in den nationalstaatlichen Modus zurück. Es werden Grenzen geschlossen, von einer europäischen Freizügigkeit im Schengen-Raum kann keine Rede mehr sein.

Es gibt eine Alternative – eine radikale Europäisierung der Politik, die eine kontinentweite Grundsicherung für alle möglich machen würde, statt weiter die Re-Nationalisierung der sozialen Frage auf dem Rücken der Flüchtenden zu befeuern. Nötig wären sichere und legale Einreisemöglichkeiten überall, damit Menschen nicht immer gefährlichere Wege beschreiten müssen bei ihrer Flucht vor Elend, Krieg und Verfolgung. Und es müsste einen europaweiten Rüstungsexportstopp sowie eine an sozialen, ökologischen und den Interessen der Nehmerländer orientierte europäische Entwicklungspolitik geben.

So lange nicht mindestens das möglich gemacht wird, werden Menschen wie Aylan sterben.


Ludi Fuchs,
11.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 254.

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