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«Wandzeitung» vom 24.8.2015:

Alltägliches:

Ein einsamer Sänger.

An unserem Haus ist ein Gewölbe angebaut mit grossen geschwungenen Bogen. Die Lage darf ich getrost idyllisch nennen, am Rande der Wiler Altstadt, halbwegs im Grünen und doch zentral. Durch das ehrwürdige Haus verlaufen Teile der uralten Stadtmauer. Die Vögel machen hier noch Lärm bei Tagesanbruch, ausser mein Kater ist unterwegs. Da ich aus finanziellen Gründen gerne «uhu-Ferien» mache (ugs. «ums-Huus-ume») sind Garten und Gewölbe mein Naherholungsgebiet. Die meiste freie Zeit verbringe ich da, wenn gutes Wetter ist. Und davon sind wir derzeit ja gesegnet. Sogar mein Laptop läuft heiss, während ich dies schreibe. Ich bin meistens alleine dort unten und doch kriege ich jeden Tag Besuch. Na ja, nicht direkt. An der kleinen Umfahrungsstrasse unter mir befindet sich ein Elektrokasten, der rege als Hochsitz benutzt wird.

Meistens taucht er ganz unvermutet auf, obwohl ich es ja wissen müsste. Ein junger Mann mit dunkler Haut, ausgerüstet mit Kopfhörern und einem Sack mit Zigaretten und Getränken. Wenn Sie sich anmassen zu sagen, dass ich eine Spannerin sei, dann haben Sie nur indirekt Recht. Wir lassen uns gewissenermassen in Ruhe. Oder etwa nicht? Jedenfalls höre ich ihn immer. Mit tiefen, zuweilen schiefen Tönen interpretiert er die von ihm bevorzugten Songs pausenlos. Meistens sind sie nicht erkennbar, er scheint einen auserlesenen Geschmack zu haben. Er sitzt da und lässt die Beine baumeln. An guten Tagen singt er selbstbewusst weiter, auch wenn ein Passant mit seinem Hund vorbei geht oder eine Familie auf dem Heimweg vom Schwümbi ist. Niemand grüsst ihn und er grüsst auch keinen. Stur schaut er stets geradeaus zur Reiterwiese oder in die Weite zu den Häusern am Hang. An schlechten Tagen verstummt er sofort und guckt auf den Boden bis die Störefriede vorbei sind und er erneut zum Singen ansetzt. Manchmal ist er sanft und leise, oftmals laut und voller Temperament.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich ihn noch nie angesprochen habe. Er scheint ein einsamer Mensch zu sein, wie ich vermute mit Handycap. Aber es könnte auch sein, dass hier sein Rückzugsort ist und er den Frieden an diesem grünen Ort geniesst. Ich weiss nicht, ob er weiss, dass ich gleich nebenan bin und es ist mir auch nicht wichtig. Ich muss nicht immer auf alle Fragen eine Antwort haben. Das Geheimnisvolle und Rätselhafte in unserem Leben ist so kostbar und selten geworden. Das hat nichts mit Ignoranz zu tun oder mit Ängsten. Auch wenn ich ihn nicht wirklich beobachte, habe ich im Laufe der Zeit einiges mitbekommen. Schliesslich harre ich nicht an derselben Stelle aus wie er, ich bewege mich und hab auch oft etwas dort unten zu tun. Einmal hat er, glaube ich, meine Katze mit lautem Geplärre verjagt. Die macht, wie ich vermute, vor ihm im Gebüsch jeweils ihr Geschäft. Mit einem «Klack» öffnet er seine Dosen, die er immer in seiner Einkaufstasche mitnimmt wenn er geht. Beides zeigt mir, wie heilig ihm dieser Ort ist. Meistens bin ich überrascht, wenn es plötzlich wieder ruhig und der junge Mann scheinbar mitten in einer Melodie verschwunden ist. Und am nächsten Tag setzt sich der Kreislauf fort.


Momo Appenzeller,
24.8.2015, 114. Jahrgang, Nr. 236.

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