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«Wandzeitung» vom 18.9.2015:

Flüchtlingskrise:

Fortgespülte Menschlichkeit.

Ein kleiner, einsamer Junge, knapp drei Jahre alt, angespült an einen türkischen Strand. Es ist dieses eine Bild des verstorbenen syrischen Flüchtlingsbuben, welches mich seit Tagen nicht mehr loslassen will.

Auf einer Zugfahrt lauschte ich kürzlich einem Gespräch zweier Damen bezüglich der Flüchtlingskrise. Mehrmals musste ich schwer schlucken.

«Die haben so viel Markenzeug bei sich, dann können sie sich die Flucht ja locker leisten. Auf unser Geld sind sie nicht angewiesen! Wir schuften hart und die kriegen alles in den Arsch geschoben!»

Es war nicht das erste Mal, dass solche Sätze in meiner Anwesenheit fielen. Bei jedem Mal drängt es mich hinzugehen und diesen verständnislosen Menschen folgendes an den Kopf zu werfen:

«Stellen Sie sich bitte vor, Sie leben in einem Häuschen, haben einen Job und eine Familie. Sie kommen gut über die Runden und können sich auch mal etwas leisten. Doch dann ändert sich die politische Lage in Ihrem Land und Sie stehen vor der Entscheidung für etwas mitzukämpfen, was sich für Sie nicht richtig anfühlt oder aber zu fliehen. Kein Stein liegt mehr auf dem anderen, Ihr ganzes Wohnquartier wurde zerstört. Von Ihren Eltern ist ausser dem zusammengefallenen Haus nichts mehr übrig. Ab diesem Moment denken Sie nicht mehr nach, denn es zählt jede Sekunde! Sie schnappen sich Ihre Kinder und packen das Nötigste. Doch was ist das Nötigste? Vermutlich werden Sie Ihr Land und Ihre Bekannten nie wieder sehen! Also werfen Sie Ihr Smartphone in die Tasche, um mit Ihren Liebsten in Kontakt zu bleiben. Das Lieblingskuscheltier Ihrer Kinder darf auch nicht fehlen. Für den Notfall. – Sie haben es bereits kommen sehen, Ihr gesamtes Erspartes zusammengekratzt. Doch spätestens nach Bezahlung des Schleppers sind Sie komplett blank. Pro Kopf mussten Sie krasse 5000 Euro bezahlen! Mitten in der Nacht werden Sie mit hundert weiteren Flüchtlingen auf ein Boot geladen. Sie sind müde und durstig, doch Hauptsache, den Kindern geht es gut. Damit Euch niemand kommen hört werdet Ihr ermahnt die Klappe zu halten. Ihre Kleinste versteht das nicht, hat Angst und kann sich nicht beruhigen. Einer der Männer entreisst sie Ihnen und wirft Sie über Bord. Sie wollen hinterherspringen, doch ihre geliebte Tochter ist bereits in den Wellen verschwunden. In wenigen Monaten wäre sie zwei Jahre alt geworden.

Alles um Sie herum ist wie in Watte gepackt. Wie Sie es in das Land, welches Sie aufnimmt, geschafft haben, wissen Sie nicht mehr. Sie schlafen die ersten Nächte in einer Notunterkunft. Dicht neben 500 anderen Geflohenen. Am nächsten Morgen werden Spenden verteilt. Auch Markenklamotten sind darunter. Im Hof halten Sie in Ihrer neuen Markenkleidung Ihr Smartphone in die Höhe. Sie wollen Verbindung zum Netz gewinnen, weil Sie erfahren möchten, wer aus Ihrer Stadt überlebt hat. Am Hoftor steht jemand und beschimpft Sie. Warum wissen Sie nicht. Bruchstücke wie «Smartphone» oder «zurück in dein Land» und «Alles in den Arsch geschoben», konnte Ihnen übersetzt werden.

Und bitte sagen Sie mir jetzt, wie Sie sich fühlen, und was genau Sie besitzen. Die Antwort auf beide Fragen ist ganz einfach: nichts mehr!

 


Indira Weber,
18.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 261.

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