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«Wandzeitung» vom 16.7.2015:

Wenn man für andere Menschen inexistent ist – oder eben nicht:

Was das Leben lebenswert macht.

Vor Kurzem erzählte mir meine Freundin Anna folgende Episode: Sie lief mit einem serbischen Freund, der seit zwei Jahren in ihrem Dorf lebt, einem Fluss entlang. Es fiel ihm auf, dass Anna ein Paar länger anschaute, als man es üblich macht bei Unbekannten, die den eigenen Weg kreuzen. «Kennst du die?», fragte er Anna deshalb. «Nicht wirklich», antwortete sie, «die wohnen im selben Dorf wie ich.» Der Serbe: «Dann seid ihr also Nachbarn, seltsam, dass ihr euch da nicht grüsst!» Das mache man hierzulande in der Regel nicht bei Nachbarn, die nicht unmittelbar in der Nähe von einem wohnen, und mit denen man sich nie bekannt gemacht habe, meinte Anna. Einen Tag darauf machte sie ein Experiment: Sie grüsste einen Grossvater und dessen Enkelin, die sie schon oft in ihrem Dorf gesehen hatte. Die beiden schauten sie überrascht an, bis das Kind den Grossvater fragte: «Kennst du die?», und der Mann sagte: «Nein, die wohnt hier irgendwo.» Und Anna hörte die beiden, da sie nur einige Schritte voneinander entfernt waren.

Am Bahnhof Reutlingen, wo man wirklich niemanden übersehen kann, kommt es auch oft vor, dass man ignoriert wird, wenn man jemanden grüsst. Möchte man hierzulande einfach seine Ruhe?

Da kommt mir ein Vorfall in den Sinn, den mir letzthin meine Freundin Veronika geschildert hat. Eine Klientin von ihr wollte von ihr, Veronika ist Lebensberaterin, wissen, ob sie überreagiere: Sie fühle sich vor den Kopf gestossen. Und zwar sei sie am Wochenende bei ihren Nachbarn vorbeispaziert, die gerade im Garten sassen, habe das kleine Mädchen der Nachbarn gesehen, ihr zugewinkt und etwas zugerufen, worauf die Kleine zu ihr rannte. Diese Szene ereignete sich nicht zum ersten Mal. An jenem besagten Wochenende aber kam der Vater zu Veronikas Klientin und sagte ihr, es sei zwar schön, dass sie so Freude an seinem Mädchen habe, aber am Wochenende, da wollten sie ihre Ruhe.

Klar, hierzulande sind nicht alle so. Rentnerinnen und Rentner zum Beispiel sind meistens sehr offen und fröhlich, nur die, die unter einer Sucht leiden, schauen missmutig drein. Babys und oft auch Kleinkinder sind sehr dankbar. Was gibt es Intensiveres, als ein Baby, das einen durchdringend anschaut, wenn man mit seinem Einkaufskorb an ihm vorbeigeht? Und es gibt wohl nichts Herzerweichenderes und Reineres als ein Babylächeln!

Schade, dass es nicht die Regel ist, dass man auch mit unbekannten Erwachsenen täglich menschliche Begegnungen haben kann. Dass man darauf angewiesen ist, Freunde, Arbeitskollegen und Bekannte zu treffen, damit man durchgehend wahrgenommen wird.

Zum Glück leben in unserem Land Ausländerinnen und Ausländer. Viele von ihnen lächeln einen sogar zuerst an. Und sie helfen einem auch oft, wenn man in Not ist. Viele unserer Landsleute schauen höchstens. Und geben schlimmstenfalls einen Kommentar ab, wenn man zum Beispiel im Winter auf der Marktgasse ausrutscht, wie es letztes Jahr Veronika passiert ist. «Sie müend halt besser ufpasse», meinte ein Passant und lief weiter. Da ist es einem dann doch lieber, man wird einfach nur ignoriert. Glücklicherweise eilte Veronika ein Ausländer entgegen und half ihr auf die Beine.

 

 


Rosmarie Schoop,
16.7.2015, 114. Jahrgang, Nr. 197.

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Standpunkte:

20.7.2015, 20:20 Uhr.

Michael Suter schrieb:

Ein wenig Philosophie und exaktes Nachdenken: Wenn Ausländer pauschal als die besseren Menschen dargestellt werden und Schweizer als die Schlechteren, ist dies Rassismus.
Dieser umgekehrte Rassismus ist sogar ein doppelter Rassismus. Einerseits weil es eine pauschale Herabsetzung der Schweizer ist, andrerseits hat dieses explizite pauschale Loben und Bewerten von Ausländern, dieses Unterscheiden, dieses Diskriminieren, immer etwas «von oben herab», etwas Gönnerhaftes.

Wer so lobt erhebt sich immer über die Gelobten. Darin besteht der zweifache Rassismus dieses pauschalen Lobens. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass die so sind - drum wird es gelobt.

Vielleicht ist es auch gar nicht wahr, dass die pauschal so (gut) sind, drum muss man es wohl immer wieder sagen. Sind in der Schweiz eigentlich Hlfsbereitschaft und Freundlichkeit strafbar? Oder anders gefragt, ist die anteilmässig hohe ausländische Präsenz in den Gefängnissen deren Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zu verdanken?

Ich kenne übrigens kaum ein Land, in welchem Menschen einander so sehr helfen wie in der Schweiz. Asiatische Gesellschaften sind viel Distanzierter. In arabischen / muslimischen Ländern muss man schon zum eigenen Clan gehören, wenn das Mitgefühl möchte. In diesen Ländern wird eher unter dem Vorwand von Hilfe ausgenommen. In Afrika ist sich jeder selbst der Nächste. Auch die Amis sind noch sehr offen und hilfsbereit, sogar mehr als die Schweizer.


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