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«Wandzeitung» vom 16.9.2015:

Liebe Schweiz – es ist höchste Zeit für mich, dir Respekt zu zollen:

Eine Frage der Ehrung.

Liebes Vaterland, ich war undankbar. Ich war wie ein trotziges Kind, das nach allem, was ihm gegeben wird, gierig greift. Dem es völlig egal ist, von wem es was geschenkt bekommen hat. Ich hoffe, du beginnst, mir nach dem Lesen dieser Erklärung zu verzeihen.

Im Ausland konnte ich dich in der Regel eher ehren als im Inland. Unvergessen die Rührung, die ich anlässlich der 1.-August-Rede der damaligen Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey in Bogotá, Kolumbien, empfand. Die an die sogenannten Expats gerichteten Worte waren auf CD gebrannt und ertönten aus dem Lautsprecher. Unvergessen das Gefühl von Stolz, das aufkam, als ein kolumbianischer Taxifahrer begeistert von Roger Federer sprach. Er rühmte ihn nicht (nur), weil er so gut Tennis spielt, sondern vor allem, weil er so bescheiden und sympathisch daherkommt. Die Bescheidenheit – eine typisch schweizerische Eigenheit, sagte ich dem Taxifahrer. Noch in den Ohren hallen mir die Worte einer in Costa Rica neu gewonnenen Freundin nach: In ihren Augen vereine ich – mein Mutterland ist Chile – die besten lateinamerikanischen und die besten schweizerischen Eigenschaften, obschon ich wohl beide Ursprungländer zu wenig ehre! – Im Ausland vielleicht, in der Schweiz bis vor kurzem sicher nicht.

Aber in der Schweiz bin ich geboren und aufgewachsen und deshalb möchte ich unsere Beziehung zuerst bereinigen und mich bei dir entschuldigen. Hier ging ich in den Kindergarten, hier zur Schule, hier lernte ich Velo fahren und einen Beruf, hier hatte ich meine ersten Freundinnen und meine ersten Freunde. Mein Schweizer Vater hat meine Liebe zur Natur geweckt, eigentlich bist du meine Pacha Mama, hier liess ich meine Nabelschnur.

Hier lernte ich Werte wie Respekt – ironisch, das ich gerade diesen dir gegenüber verloren hatte –, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Wort-Halten, Bescheidenheit. Immer bei dir setze ich an, wenn ich vergleiche. Wenn ich zum Beispiel woanders bin und einen bestimmten Geruch wahrnehme. Meistens führt er mich zurück in die Vergangenheit bei dir, oft in die Kindheit und Jugend. Der Geruch nach einer frisch geteerten Strasse, nachdem es regnete, zum Beispiel. Oder der Geruch nach grilliertem Fleisch.

Ich ehre deine Berge, deine Wälder, deine Flüsse, deine Seen, ich ehre die Utoquai-Badi in Zürich und natürlich ehre ich meine Geburtsstadt Winterthur – danke, dass ich mich hier geborgen fühle und immer zu dir zurückkehren darf –, ich ehre deine Wanderwege und deine Züge, ich würdige, dass ich mitbestimmen kann.

Ich möchte nicht mehr herausschälen, was mir nicht so passt, sondern dich für das viele Gute ehren, das du hast und bist. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Schnodrigkeit. Ich hoffe, dass dieser Wiedergutmachungs-Versuch der erste Schritt ist in eine neue Beziehung. Ich hoffe, dass ich irgendwann «meine liebe Schweiz» schreiben oder sagen kann, ohne mich wie eine Verräterin zu fühlen.

 


Rosmarie Schoop,
16.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 259.

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Standpunkte:

4.10.2015, 14:10 Uhr.

Martin Faber schrieb:

Als Eingebürgerter mit Migrationshintergrund bin ich dankbar in diesem wunderbaren Land und unter diesen mehrheitlich wunderbaren Menschen leben zu dürfen. Sicher gibt es auch in der Schweiz schlechte und verschlossene Menschen. Aber die Mehrheit ist sehr anständig und sogar weltoffen. Ich verstehe ich den «Selbsthass» und die «Selbstverleugung» nicht, die ich von vielen politisch linken Schweizern immer wieder höre. Ohne den Filz und die illegalen Machenschaften von Grosskonzernen zu ignorieren, kommt der Wohlstand und die Lebensqualität in der Schweiz von den humanistischen, verantwortungsvollen, ehrlichen, bescheidenen und fleissigen Eigenschaften der Bevölkerung, was inzwischen viele Zugewanderte und erfolgreich integrierte einschliesst. Die Schweiz ist mit ihrem Modell der Mitbestimmung sogar ein Vorbild für die zentralistische und undemokratische EU.


23.9.2015, 22:21 Uhr.

Nathalie Hirsig schrieb:

Liebe Rosmarie. Deine Worte fliessen für mich sehr geschmeidig, ja fast wie ein frischer Bergbach oder ein schlängelnder Waldweg. Willkommen in der Dankbarkeit, wo auch immer Du Dich gerade befindest. Und von mir ein grossen Dank, dass Du Dich so schön und vom Inneren ausdrücken kannst!


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