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«Wandzeitung» vom 15.11.2015:

EIN SATZ:

Neulich beim Augenarzt.

Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge. Titel eines vergriffenen Werks von NIKLAUS MEIENBERG.

Nicht nur in den Alpen erweitern sich die Pupillen, auch im Mittelland, in der kleinen, fast grossen Stadt, die wir alle gut kennen, kann es dazu kommen.

Ich tappe – erheblich in meiner Sehfähigkeit eingeschränkt – ins Wartezimmer des Augenarzts, nachdem er mir kurz zuvor eine Substanz mit der diskriminierenden Bemerkung, dies müsse bei mir unbedingt sein, ins Auge geträufelt hat.

Durch den Schleier erspähe ich gegenüber zwei schemenhafte Gestalten. Wie ich höre, handelt es sich um eine Mutter und ihren Sohn. Sie unterhalten sich nicht, nein es findet ein Verhör statt. Soweit es die tanzenden Flecken vor meinem Auge zulassen, meine ich, ein Buch in den Armen der Mutter zu erkennen. Der Sohn wird über Küchenhygiene abgefragt: «Was machst du, bevor du mit Kochen anfängst?» Soweit ich erkennen kann, hat der Junge eine dieser aktuell modischen Streberhornbrillen auf. Ich weiss nun, welche Brille ich mir nicht erstehen werde. Trotz des intellektuellen Anstrichs kommt der Junge nicht drauf, bis die Mutter ihm die Selbstverständlichkeit einflüstert: «Die Hände waschen.» Spätestens jetzt wären mir die Augen auch ohne die eingeträufelte Flüssigkeit aufgegangen.

Wie schön war es doch in meiner Jugend. Ich sass mit meiner Mutter im Wartezimmer im kleinen thurgauischen Dorf. Sie fragte mich nicht ab, schon gar nicht über Küchenhygiene, die in jener Zeit keine prominente Rolle im Schulunterricht spielte. Dafür sprach ich mit lauter Stimme im damals noch von mir verwendeten appenzellischen Idiom aus, was alle über die Frau, die in einer Ecke sass, dachten: «Die Frau gsiet wien en Gässbock uus.» Ich trug keine intellektuell machende Brille, es hätte auch nichts genutzt.

Der Junge weiss auf keine Frage eine Antwort, beschuldigt aber immerhin nicht mich eines ziegenhaften Aussehens. Die Mutter, die vom Genie ihres Sprosses überzeugt ist, findet die erlösende Erklärung: «Du bist wieder bis elf aufgeblieben und heute für nichts zu gebrauchen. Am Abend gehst du um neun ins Bett. Deal.» Sie hält ihm ihre Hand hin, in welche der Junge zögernd einschlägt.

Meine Mutter hielt mir keine Hand hin, geschweige denn applizierte sie an meine Backe, was mir gehört hätte. Man schlug nicht mehr zu jener Zeit, dealte aber auch noch nicht. Ich weiss übrigens nicht, was schlimmer ist.

Sie war vollauf beschäftigt, die diplomatische Krise zu meistern. Die Dame war unsere Nachbarin. Und wenn sie auch nicht besonders gut sah und aussah, hören tat sie wohl. Bis zu unserem Wegzug aus dem Dorf herrschte Kriegszustand.

Die Praxishilfe führt mich wieder ins Sprechzimmer, noch bevor ich mir darüber schlüssig bin, dass es früher angenehmer war, jung gewesen zu sein – zumindest für die Jugend.

Und dass der Junge nie Kolumnen schreiben wird.


Adrian Ramsauer,
15.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 319.

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