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«Wandzeitung» vom 20.7.2015:

Ich bin dankbar, hier leben zu dürfen:

Nationalstolz gegen Leistung?

Sie kennen bestimmt den Spruch «Schwiizer chan jede werde, aber en echte Eidgnoss mues mer sii!» – beliebt in eher rechtsbürgerlichen Kreisen, an Stammtischen oder auf den «Gefällt mir»-Sektionen von Facebooknutzern mit tendenziell niedrigen intellektuellen Ansprüchen.

Ich habe das noch nie verstanden. Ich bin stolz auf die Schweiz. Auf ihre direkte Demokratie. Auf ihr vielfältiges Bildungssystem. Auf ihr Sozialsystem, das Menschen nicht systematisch verurteilt, sondern anspruchslos als gleichwertig ansieht und deren hehrste Aufgabe die Reintegration ist. Auf ihre Neutralität und auf ihre humanitäre Tradition. Ich bin dankbar, hier leben zu dürfen. Dankbar, dass ich das Glück hatte, hier geboren worden zu sein.

Aber bin ich stolz darauf? Laut Duden ist Stolz das Selbstbewusstsein und die Freude über einen Besitz oder eine eigene Leistung. Besitzen kann ich das Schweizer Bürgerrecht, ja, aber das ist im Grunde ein Papier. Die Schweiz besitzen kann ich nicht. Und die Freude über die eigene Leistung? Ich habe ja gar nichts geleistet für das Privileg, Schweizerin zu sein. Ich wurde hier geboren, meine Eltern und Grosseltern waren halt Schweizer, fertig. Aber was habe ich selber dafür getan? Ich habe nicht mehr geleistet als eine Nichtschweizerin. Und wenn diese ebenfalls hier geboren ist, kann ich mich noch nicht einmal darauf berufen, dass ich eben vorher da gewesen sei und deshalb mehr Anspruch auf dieses Land hätte.

Da kommt dann bei Diskussionen mit den oben genannten Stammtischbesuchern und Facebooknutzern meistens der Knackpunkt: Ich war vielleicht vorher noch nicht da, aber meine Eltern, «imfall»! Und meine Grosseltern und deren Grosseltern! Meine Familie hat das hier alles aufgebaut und deswegen habe ich Ansprüche, sozusagen vererbte! Aber Haftstrafen und Bussen werden ja auch nicht vererbt, oder?

Wir haben gemerkt, dass es sinnvoller ist, die Menschen individuell und aufgrund ihres eigenen Verhaltens, zu beurteilen. Wir sind schon mehrere Jahrhunderte lang weg vom Sippendenken, bei dem man die Vorfahren nicht abschütteln konnte und daraus Vorteile, aber eben auch Nachteile zog. Also warum genau sollte ich rational gesehen mehr Rechte haben als ein ertrinkender Syrier? Woher nehmen wir uns das Recht, darüber zu entscheiden?

Ich gebe zu: Beim Schreiben des anfangs genannten Eidgenossen-Spruch musste ich den Kopf schütteln und «es hät mi äs biz tschudderet», aber wenn ich zum Beispiel höre wie ein Toni Brunner an der Delegiertenversammlung der SVP zum aktiven Widerstand gegen neue Asylzentren aufruft, kommt mir doch ein wenig Kotze hoch. Wenn «Grenzschliessung» plötzlich zur politischen Forderung wird und nicht mehr bloss ein Wort ist, das allzu bildlich an die Zeit des Dritten Reichs erinnert; wenn vollgefressene selbstzufriedene Schnauzbärte mir an Stammtischen von ihrem Vorrecht erzählen, für das sie selbst nie einen Finger krumm gemacht haben, während zur gleichen Zeit im Mittelmeer Menschen kläglich ertrinken; dann bin ich nicht mehr bereit, stolze Eidgenossin zu sein. Erstrebenswert wäre es, ein stolzer Mensch zu sein, und dafür müssen wir etwas leisten.

 

 


Anita Hofer,
20.7.2015, 114. Jahrgang, Nr. 201.

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