Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 25.8.2015:

wie uns der schnabel gewachsen ist

vom anfang

dabei zu sein und zu erleben, wie moritz zu reden beginnt, ist faszinierend. von zwei seiten her nähert er sich der sprache. zuerst sind es seine eigenen lautkreationen, die nur die eingeweihten verstehen. fff (mit eingezogener luft): ich will trinken. schnüffeln mit der nase: häschen. pfpf: töff. mehr und mehr auch passt er sich uns an und ahmt wörter nach. oo: groß. oot: rot. atie: abziehen, anziehen. doppe: schoppe. titte: sitzen. cacooe: traktor. und er unterscheidet bereits zwischen ‚gumpe‘ und ‚ggumpet‘.

schön, wie die ganze umgebung sich um ihn bemüht und ihm wörter vorsagt. das mag ja ganz nett sein und eine liebevolle zuwendung bedeuten. aber zum redenlernen trägt es kaum bei. ein kind lernt selber und – wie auch die wissenschaft festgestellt hat – indem es der sprache seiner umgebung zuhört und sie nachahmt.

wir können nur staunen über das subtile gehör der kinder. meine erstklässler imitierten die geräusche des trolleybusses beim anfahren und anhalten täuschend echt. nur etwa ein oder zwei jahre später verliert sich dies, wie auch die fähigkeit des direkten spracherwerbs.

kinder lernen über nachahmung die jeweilige ‚muttersprache‘. oder tragen sie etwa die sprache bereits in sich und müssen diese nur noch der umgebung anpassen? es wird berichtet, der staufenkaiser friedrich der zweite habe herausfinden wollen, ob wirklich wie vermutet hebräisch die ursprache der menschen sei, und habe zu diesem zweck zwei säuglinge den eltern weggenommen und ammen übergeben mit der strikten anweisung, kein einziges wort verlauten zu lassen. seine erwartung war, dass die kinder dann von selbst hebräisch zu sprechen begännen. das ergebnis war, dass die beiden kinder starben bevor sie sprachen. vermutlich ist für kinder das sprachbad der umgebung so lebenswichtig wie die luft zum atmen.

dass aber beim spracherwerb auch ein genetisch eingeschriebener anteil mitspielt, zeigt ein teilgebiet der linguistik, die kreolistik. darin wird eine erscheinung behandelt, die sich in bestimmten einwanderungsgebieten abzeichnet. immigranten sprechen bekanntlich die sprache ihres gastvolkes gebrochen. sie sprechen, was die wissenschaft ‚pidgin‘ nennt. damit ist eine sprache ohne grammatik gemeint. «du material deponiere, dänn hamer hole.» in einer gemischten gesellschaft nun, in der alle ihre muttersprache aufgegeben haben und sich nur mit pidgin verständigen, weil sie aus verschiedenen kulturen stammen, lernen die kinder zwar ebenfalls pidgin. aber sie entwickeln auf dieser grundlage wieder eine vollständige grammatik (mit deklinationen und zeitformen usw.). sie reden also in einer von ihnen neu geschaffenen, ganzen sprache, die in der sprachwissenschaft ‚kreolsprache‘ genannt wird [angelika linke u.a., studienbuch linguistik, 3. aufl., s. 98]. sie realisieren etwas, was ihnen niemand vorgemacht hat. somit können wir annehmen, dass den menschen eine grundgrammatik eingeboren ist, die sie unabhängig vom jeweiligen sprachlichen vorbild realisieren.

wunderbar.

 

 


Alfred Vogel,
25.8.2015, 114. Jahrgang, Nr. 237.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.