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«Wandzeitung» vom 26.1.2015:

Wie schmerzhaft soll der Sozial-Stempel sein?

Bedingungslos.

Die Sozialwerke funktionierten in der Schweiz auch dank des Anstands, schrieb HSG-Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler kürzlich in einem Zeitungsbeitrag. Deshalb sei das hohe Schweizer Rentenniveau finanzierbar: Weil viele Anspruchsberechtigte ihre Leistungen aus Anstand nicht abholen. Ein Sozialsystem, das auf den Hemmungen seiner Bedürftigen aufbaut, krankt. Bütler hat einen Kern der Debatte um Sozialhilfe, Altersvorsorge, Invalidenversicherung et cetera angesprochen, der polarisiert und der für die künftige Ausgestaltung des Sozialstaats wesentlich sein wird: Wie stark soll er seine Klienten stigmatisieren? Wie schmerzhaft soll der Stempel «Rentner» und «Sozialfall» sein? Schmerzt er gar nicht, gönnen sich womöglich auch Arbeitsfähige ein Leben auf Staatskosten. Schmerzt der Stempel zu sehr, rutschen wir in überwunden geglaubte Zeiten zurück: Suppenküche, Almosen, Willkür. Dass das Schweizer System auf Anstand baut, heisst auch, dass die Anständigen kurz gehalten und die Unanständigen belohnt werden.

Eine Möglichkeit, den Sozialfall-Stempel gänzlich aus dem Weg zu schaffen, wäre das bedingungslose Grundeinkommen, das eine beim Bundesrat pendente Volksinitiative fordert. Das Grundeinkommen würde auch dem Umstand Rechnung tragen, dass schwer Vermittelbare im ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen haben. Nur schon eine etwas länger dauernde Arbeits- oder Erwerbslosigkeit kann den Einstieg massiv erschweren, geschweige denn ein körperliches, geistiges oder soziales Handicap. Damit der Erwerbsanreiz trotz Grundeinkommen gross genug wäre, müsste der Einkommensbetrag klein genug sein, er darf zum Leben nur knapp genügen. Das bringt ein neues Problem mit sich: Was ist mit jenen, die tatsächlich erwerbsunfähig sind? Sie bräuchten finanzielle Zusatzleistungen, was einen wichtigen Vorzug des bedingungslosen Grundeinkommens gegenüber dem heutigen Sozialsystem, die Einfachheit, gleich wieder zunichte macht.

Dennoch ist die Idee prüfenswert. Momentan wird unsere Gesellschaft immer älter, die Pflegekosten steigen, ebenso die AHV-Ausgaben und die Sozialhilfekosten. Die Invalidenversicherung hat ihre Ausgaben stabilisiert, wenngleich sie das Spardiktat des Parlaments nur halbwegs umsetzen kann. Die Sozialhilfekosten steigen gesamtschweizerisch seit Jahren, in einigen Gemeinden explosionsartig. Die Kurve des Anstiegs und das finanzielle Ausmass sind zu gross, um das Problem zu ignorieren. Längst reagiert hat die SVP, welche die Sozialhilfe radikal umbauen will und beispielsweise die Kürzung des Grundbedarfs oder ein Autoverbot fordert. Diese Massnahmen würden das Stigma der Betroffenen zementieren, den Staat aber nur marginal entlasten. Das eigentliche Problem ist: Eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz können nicht für sich selber sorgen, Tendenz steigend und ebenso die Dauer der Abhängigkeit. Dafür wird die Politik eine Lösung finden müssen, idealerweise gemeinsam mit der Wirtschaft. Vielleicht wird sie in gutschweizerischer Manier mit vielen kleineren Massnahmen die Symptome ein wenig bekämpfen. Vielleicht wird sie auch einen radikalen Schnitt wagen mit ungewissen Folgen.


Claudia Blumer,
26.1.2015, 114. Jahrgang, Nr. 26.

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