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«Wandzeitung» vom 29.1.2015:

KOPFSTAND:

Invasive Neophyten.

Im letzten Jahr habe ich ein neues Wort kennengelernt, und es kam «invasiv»: Das Wort «Neophyten». Wenn ich den Sinn in einem Quizrätsel hätte erraten müssen, hätte ich wohl «Teilnehmerinnen an einem Debütatinnenball» oder etwas Medizinisches gewählt: Abszesse, Hämorrhoiden und Neophyten. Um so etwas musste es sich handeln, denn die Öffentlichkeit wurde gewarnt wie vor einer Atomkatastrophe: «Invasive Neophyten sind eine der grössten Bedrohungen für die Biodiversität der Schweiz. Helfen Sie mit, ihre Ausbreitung zu stoppen.» Neophyten sind eingewanderte oder eingeschleppte Wildpflanzen, die mangels natürlicher Feinde das Einheimische zu verdrängen drohen.

Und gegen diese Invasion wird die ganze Schweiz zur Hilfe gebeten. Mir war das noch gar nicht aufgefallen: Im Gemüsegarten stand friedlich Sellerie neben Lauch und etwas Chinakohl und die Blumen gediehen prächtig. Zudem ist die weltweite Durchmischung unaufhaltsam: Ein Samenkörnchen in einem Ferienkoffer und die Neuzuzüger sind da. Das Neue muss ja nicht immer eine Beulenpest sein: Auch die Kartoffel ist eine bei uns eingeführte Pflanze. Und sie hat den Hirsebrei invasiv verdrängt. Pommes-Liebhaber finden das tiptop.

Also geht es möglicherweise weniger um die Pflanzenwelt als um die Invasion durch Fremdes an sich: Die Schweiz ist bedroht in ihrem Lebensraum und ihrer Eigenart! Das war letztes Jahr ja auch ein Dauerthema: die Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte durch Invasionen von Zuwanderern. Und weil beide nicht zu stoppen sind: der 'verlotschte Beifuss' so wenig wie die Migranten, reduziert sich die Botschaft auf nutzlose Panikmache: Ihr seid bedroht, fürchtet euch! (Übrigens würde ich mich für eine Alarmierung der Bevölkerung an der Sprache des BLICK und nicht der NZZ orientieren. Das Volk versteht «Grüsel» besser als «Pädophiler» und «Unkraut» besser als «Neophyten».)

«Sie sind fremd, eingeschleppt, vermehren sich unkontrolliert und verdrängen die einheimische Artenvielfalt.» Der Text könnte auch einem Abstimmungsflugblatt entnommen sein. Geht es tatsächlich um ein paar neue Pflänzchen? Denn die wirklichen Neophyten meiner Lebenszeit, die dem Einheimischen den Garaus gemacht haben, heissen nicht 'Kaukasus-Fetthenne', 'Riesen-Bärenklau' oder 'einjähriges Berufskraut' (alle echt!), sondern McDonalds und Starbucks, Playstation und Englisch. Sie heissen Jazz, Rock und Hip-hop (Negermusik, wie mein Grossvater sie noch ungeniert nannte) an Stelle von Ländlern, Schottisch und Polka, Kebap statt Bratwurst, Bowling statt Kegeln, 'food' statt Essen und 'littering' statt 'Güsel'. Aber gegen all das sind wir hilflos. Drum fackeln wir wenigstens mit dem Gasbrenner Unkräuter zwischen den Gartenplatten ab. Etwas muss man doch tun!

Nur etwas geht bei der Angst vor allem Neuem verloren: Ohne Begegnungen und Vermischungen hätte es gar nie eine Evolution gegeben. Das Experimentieren mit neuen Formen ist eine Überlebensstrategie der Natur. Schon Secondos sehen sich als Einheimische: Heimat ist dort, wo sie zur Welt gekommen sind: hier und jetzt.


Thomas Oeschger,
29.1.2015, 114. Jahrgang, Nr. 29.

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Standpunkte:

1.2.2015, 13:43 Uhr.

Matthias Grob schrieb:

Wenn ich ich die Moral dieser Geschichte recht verstehe: Bremsen oder verhindern braucht viel Energie und ist langfristig dann meist doch nicht erfolgreich. Umsteuern braucht weniger Energie, dafür mehr Schlauheit, und es kann noch schiefer kommen. Akzeptieren ist eine andere Sorte Aufwand: Man muss sich anpassen, die eigenen Gewohnheiten und Ansichten ändern, das Alte aufgeben ... Die Natur scheint da grosszügiger zu sein als die meisten Menschen ...


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