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«Wandzeitung» vom 29.7.2015:

Zum Totlachen (wenn’s wenigstens so wäre!):

KOPFSTAND.

Knuddlig sah er aus, der grauhaarige Töfffahrer in seiner Lederjacke auf dem Titelbild der Apotheken-Zeitschrift, Lachfältchen um die Augen, ein mit sich und der Welt zufriedener «Golden Ager». So beglückend kann das Alter der 60+ Generation sein, der goldene Herbst des Lebens. Ab Seite 2 der Apotheken-Zeitschrift war dann allerdings fertig lustig: «Schwerhörigkeit: rasch handeln», «Prostata: sprich darüber», «Arthrose hat mein Leben verändert», «Krebs früh erkennen», Wechseljahre, Schlafstörungen, und natürlich die Tena-Senior-Inkontinenz-Einlage, für ein sicheres Gefühl im Alltag. Falls man sie nicht aus Demenz vergisst. Oder wegen der Prostata nicht braucht.

Wir Alten sind ein begehrtes Marktsegment: kaufstark und zahlreich (dieses Jahr feiern in der Schweiz mehr Menschen einen 60. Geburtstag als einen 20., weiss eine Tagi-Beilage, und dass wir im Durchschnitt! 30! Jahre! älter werden als vor hundert Jahren). Wir sind eine Goldgrube für die Pharmaindustrie, welche das «Golden» unverfroren auf den eigenen Umsatz zu beziehen scheint, denn sie wissen: Wir würden unser letztes Gold hergeben für Gesundheit, weshalb die Pfiffikusse der Marketing-Abteilungen immer öfter die Schwelle bei 50+ ansetzen. «Lieber rechtzeitig vorsorgen», heisst das dann, meint aber natürlich: Je früher wir sie altreden, um so länger kaufen sie unser Zeug. Oder auch nur: Wer uns jetzt schon kennenlernt, ist dann bereit, wenn der Horror losgeht. Denn das tut er.

«Die Lebenden werden die Toten beneiden» war ein Spruch der Anti-AKW-Bewegung. Er ist wieder zu haben. Denn was hinter den Fassaden aus Werbung und Schönschwätzen abgeht, ist alles andere als fröhlich. Und es ist auch darum so teuflisch, weil es kaum ausgesprochen werden darf: Es hat uns ja gut zu gehen, wir sollen ja Golden Agers sein. Dabei sind wir längst Opfer einer Medizin geworden, die uns helfen wollte besser zu leben, aber inzwischen vor allem dazu beiträgt, schlechter zu sterben. Früher starb man am ersten fatalen Unfall oder Erreger, heute am letzten, während der Verstand mit Grauen zusehen muss, wie der eigene Körper, den er bewohnt, bis ins Groteske zerfällt. Wer das mit klarem Bewusstsein miterleben muss, hat guten Grund, depressiv zu werden, und vermutlich ist Demenz unter diesen Umständen ein Segen. Sage nicht ich, sagt ein Insasse eines Altersheims, einer Seniorenresidenz, eines Zombie-Palasts. Wo sie nachts versuchen, dem Personal ihr Erspartes für einen Giftcocktail zu vermachen. Die Golden Agers haben Sehnsucht nach dem goldenen Schuss.

Ich weiss nicht, wann die Mär in die Welt kam, Quantität sei wertvoller als Qualität. Spätestens im Alter beginnt die Lüge zu stinken. Aber die ganze Gesellschaft tanzt nur noch den «Vielmehr – am meisten», und die Alten sollen ihr nicht den Wahn verderben und sich schön zurechtmachen und dankbar lallen: «I bi scho nünzgi".

Sterben ist nicht fürchterlich. Fürchterlich ist nur, was wir mit unseren alten Menschen tun. Wir lassen sie leiden für unsere verkrampfte Illusion ewiger Jugend und unsere Verdrängung, für unseren Wahn, mehr sei besser und alles im Leben eine Hitparade. Aber wir, das sind auch sie selber, nur vorher.

 

 


Thomas Oeschger,
29.7.2015, 114. Jahrgang, Nr. 210.

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Standpunkte:

31.7.2015, 13:27 Uhr.

Thomas Gehring (1945) schrieb:

Krass gut.


30.7.2015, 12:38 Uhr.

Elisabeth Noel schrieb:

GANZ toll! Es könnte nicht besser oder treffender gesagt werden! Mein Rat (ich bin 68 Jahre alt): Anstatt die Pharma-Industrie zu bereichern, Alternativ-Medizin unterstützen, gesund essen, Aerial Yoga unter einem Baum, Meditieren und Exit in Betracht ziehen!


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