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«Wandzeitung» vom 7.10.2016:

Auch wir Allerweltsmenschen können die uns bekannten Namen kaum mehr über Dauer abspeichern:

Froh leben und vergessen lassen.

Es kommt in einem frohen Menschenleben keineswegs einfach abrupt, dass man nicht mehr schmerzfrei aus dem Bett steigt. Das, was wir älteren Semester nicht ganz so gern oder lebensfroh Zipperlein nennen, kommt niemals von ungefähr. Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal – durchgängig! Es ist nach einem guten Leben über sechs Dezennien im selben Chassis völlig normal, dass ein Schmerzchen da und ein Wehwehchen dort zu spüren ist, und es schleicht sich nach so langer Zeit immenser Körperleistung hinterlistig und unmerklich fies, also voll dreckig Müdigkeit in den Alltag ein. Anfangs nimmt man die Rückenschmerzen gar nicht wahr, oder ämel kaum. Was war das denn nun, schiesst’s durchs irritierte Hirn. Dann übergeht Männlein wie Weiblein das harmlose Stichlein ins Kreuz locker vom Hocker, steht auf, als steckte man wie eh und je im munteren Kinderkörper. Aber, aber: Das war mal! Zuerst meldet sich abbaumässig der Leib, und hoffentlich zu allerletzt das Hirn. Und das, was wir nach allem Übrigen als garstige Gedanken ins unverstehbare Universum aussenden, das gibt bös zu denken, wenn es das Denken dannzumal noch gibt. Es geht einfach zu viel ums Ich, zu wenig ums Du und fast nie um uns alle Geschöpfe.

Genügsamkeit für jede Lebensekunde gehört im Herzrhythmus ins Hirn gemeisselt oder wie es weiland François de la Rochefoucauld ein Hauch origineller formulierte: Dankbarkeit ist bei den meisten nichts als das geheime Verlangen, noch grössere Wohltaten zu empfangen. Ämel könnte man sich ja mental mit diesen Bebechen auseinandersetzen, will heissen: Wir Menschen haben die faszinierende Kraft, uns intellektuell mit Schmerz auseinanderzusetzen, ihn zu vermindern oder gar zu beseitigen, indem wir uns geistig voll konzentriert auf das doloröse beziehungsweise peinigende Organ einstellen und ihm durchaus auch mit Wut zudenken. Selbstverständlich ist das kein Zauber, der alles Unangenehme löschen kann. Es sind uns Menschen Grenzen gesetzt, aber die können wir ja individuell ausloten und dankbar annehmen, wenn was geht. Was indes nicht geht, können wir im Sinne Gotthold Ephraim Lessings leise, aber wuchtig, zum Übrigen legen, also schlicht vergessen. Schön, dass der Mensch nicht nur Materie ist, sondern auch Geist. Deshalb ist das grosser Vergessen zwar ein Thema, aber keine Katastrophe. Wir leben in einer Zeit der krassen Reizüberflutung, wir haben uns mehr und mehr mit belangvollen und weniger gewichtigen Informationen zu beschäftigen, in immer kürzeren Intervallen. Es ist darum nachvollziehbar, dass bei dieser herrschenden unendlich gewaltigen Datenfülle, die unser Hirn täglich zudeckt, immer und immer wieder das Existenzielle abzuspeichern versucht und das Irrelevante in die Unendlichkeit entsendet.

Gewiss, auch wir Allerweltsleutchen können allein die uns bekannten Namen kaum mehr über Dauer abspeichern, aber es gibt auch die traurigen Schicksale liebenswürdiger Personen, die einfach nicht mit allen Organen oder Fähigkeiten ausgestattet sind, die wir, die grosse Mehrheit, schamlos für gewöhnlich halten. Was wir sogenannt gesunde Menschen einfach so für selbstverständlich annehmen, ist ein ganz grosses Geschenk für ein ganz wunderbares Leben.


Guido Blumer,
7.10.2016, 115. Jahrgang, Nr. 281.

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