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«Wandzeitung» vom 3.5.2016:

Von Taiwan in die USA:

Liebe Jenny.

Vor zwanzig Jahren sind wir uns zufällig begegnet. Wenn ich auswärts bin, höre ich immer herum, was musikalisch läuft. Dich habe ich zwar nie gehört, aber man hatte mir gesagt, dass du in Genf lebst, aus Taiwan kommst und ziemlich gut Klavier spielen kannst. Dein Partner war damals beim Schweizer Fernsehen, und so kam es, als ich Martha Argerich in Genf besuchte, dass ich über sie von dir erfuhr.

Für meine Schulhauskonzerte wollte ich zweimal pro Jahr neue Menschen bringen, die unserer Jugend ihr Instrument und ihre Musik näherbrachten. Jenny – so hat man von dir erzählt – spielt mit ausserordentlicher Leichtigkeit die schwierigsten Werke der Klavierliteratur. Toll, habe ich gedacht, da geht dann vielleicht Schostakowitsch, Lutoslawski und noch neuere Komponisten. Wir haben uns nur telefonisch getroffen, und ich war erstaunt über dein nahezu akzentfreies Französisch. Ohne dich jemals gehört zu haben, habe ich dich für drei Wochen Winterthur gebucht. Ich kannte dein Repertoire nicht, hatte aber Vertrauen in die Worte von Martha Argerich. Am Vorabend der Konzertreihe mit 70 Konzerten bist du in Winterthur angekommen, einer Stadt, die dir fremd war. Eigentlich logierte ich die Schulhauskonzert-Leute meist privat, bei Jägglis, in der Villa Flora und bei Reinharts im Tössertobel, kostenlos. Du aber wolltest das nicht, du wolltest im Hotel wohnen. Die «Loge» war dir gerade recht, zentral und sauber, sagtest du. Wir haben dann am späteren Abend besprochen, was genau du am nächsten Morgen spielen würdest, wir hatten im Vorfeld ausgemacht, dass es virtuos sein sollte, Chopin-Etüden waren ohnehin vorgesehen. Dann hast du Lutoslawski mit seinen schwierigen Etüden erwähnt.

Dann ging’s am nächsten Tag um 08 Uhr 10 im ersten Singsaal los. Nein, einspielen wolltest du dich nicht, den Flügel probieren auch nicht. Die Klassen nahmen Platz, du kamst mit umgedrehtem Cap rein und spieltest mit der Leichtigkeit von Lang-Lang die erste Chopin-Etüde, jene in C-dur: makellos, leicht, in einem atemberaubenden Tempo. Dann gings weiter mit Lutoslawski, einer Etüde, die ich nie gehört hatte – perfekt gespielt und vom jungen Publikum bejubelt. Du warst sehr mädchenhaft und gabst dich so natürlich und unverklemmt, ich hatte das noch nie erlebt – keine Grimassen, kein Schweiss ... Nachher fuhrst du nach Genf. Von dort erfuhr ich, dass du in die USA fahren würdest – für immer. Du warst ja schon zuvor ein Jahr lang in New York, damals, als du genug hattest vom Klavierspiel. Du hast ein ganzes Jahr lang keinen Ton gespielt und hast als Serviererin gearbeitet.

Letzte Woche hast du mir geschrieben, dass du mich gerne sehen würdest, es war eine Antwort auf meine Mail, die ich rundherum verschickt hatte und meine Bekannten informierte, dass ich an der Schulgasse in Winterthur und am Bellevue in Zürich meine musikalischen Beratungen wieder aufnehme. Im Internet habe ich dann gelesen, dass du jetzt zu den bekanntesten Pianistinnen Amerikas gezählt wirst. – Du hast mir Deutsch geschrieben. Fehlerlos. Mit Uri Caine hast du ein neues Album aufgenommen. Ich habe reingehört. Einfach toll. Auf bald in Europa, hoffe ich. Herzlich, André


André Bernhard,
3.5.2016, 115. Jahrgang, Nr. 124.

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